07.05.2011 - 19.06.2011
Kapitulation, Stunde Null, Berlin in Trümmern. Der Tiergarten abgeholzt, die Gedächniskirche zerbombt, das Nicolai-Viertel eine Ruinenlandschaft, der Lehrter Bahnhof voller Flüchtlinge - und langsam hält der Alltag Einzug in das Leben der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Neuanfang ist geprägt von Arbeitslosigkeit und sozialem Elend, Handel und Schwarzmarkt, Besatzern und Besiegten. Fritz Eschen erkundet das Leben und Überleben im zerstörten Berlin seit 1945 und lässt keinen Bereich des öffentlichen Lebens aus. Er dokumentiert Enttrümmerung und Wiederaufbau, Kriegsversehrte und Arbeitende, jedoch auch das aufblühende Kulturleben, Künstler, Flaneure, Liebende und immer wieder spielende Kinder als die eigentlichen Herren der Stadt. Seine Fotografien sind wichtige zeithistorische Dokumente frei von jeglichem Pathos und Dogmatismus und eben aufgrund ihrer unspektakulären Motive einzigartig.
Fritz Eschen versteht sich in erster Linie als Chronist des Alltags - nüchtern, fast unbeteiligt und vom sozialen Umfeld distanziert. Mit Feingefühl, Kenntnis und Genauigkeit zeigt er sowohl Hoffnung als auch Not, Aufbruch und Resignation einer Gesellschaft, die sich neu zu verorten suchte. In seinen Fotografien bleiben vor allem Momente, Stimmungen und Situationen lebendig, welche mit der Zeit in der Erinnerung mehr und mehr verblassen. Die Tagespolitik, aber auch die neuen bestimmenden politischen oder historischen Faktoren - die Aufteilung in vier Sektoren, die Blockade Westberlins als Reaktion auf die Währungsreform, die Luftbrücke sowie die Gründung zweier deutscher Staaten und die damit verbundene Verfestigung des Kalten Krieges - bilden allenfalls einen äußeren Bezugsrahmen seiner Fotografien.
C/O Berlin präsentiert in Zusammenarbeit mit der Deutschen Fotothek, Dresden, ca. 120 Fotografien aus dem Gesamtwerk von Fritz Eschen. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Lehmstedt Verlag. Erstmals zu einer Ausstellung stellt C/O Berlin gemeinsam mit CultureTouch eine App zusammen, die den heutigen Zustand der Orte auf den historischen Bildern zeigt sowie zusätzliche geschichtliche Informationen beinnhaltet. Mit Fritz Eschen setzte C/O Berlin seine Serie zeithistorischer Fotografien fort, in der schon das Lebenswerk von Roger Melis gezeigt wurde.
Fritz Eschen, geboren 1900 in Berlin, ist einer der bedeutendsten deutschen Reportage- und Porträtfotografen. 1919 absolvierte er eine kaufmännische Lehre und sammelte erste Berufserfahrung. Obwohl er fotografischer Autodidakt war, entschied sich ab 1928 als freier Bildjournalist bei Agenturen wie Associated Press, Defot und Neofot-Fotag zu arbeiten. Trotz seiner jüdischen Abstammung überlebte er im Gegensatz zu einigen seiner Familienmitglieder die Zeit des Nationalsozialismus, da ihn seine zweite Ehe mit Gertrude Thumm vor der Deportation rettete. 1933 wurde er aus dem Reichsverband der Deutschen Presse ausgeschlossen. Trotz dieses Berufsverbots erhielt Fritz Eschen gelegentlich Aufträge von amerikanischen Agenturen und der Deutschen Reichsbahn. Ab 1945 konnte er wieder als freier Bildjournalist arbeiten und fotografierte für nahezu alle Berliner Zeitungen und Zeitschriften. Von 1952 bis 1954 war er Bildredakteur bei der "Neuen Zeitung". Nach dieser Zeit veröffentlichte er vor allem Bücher, die teils Auftragswerke, teils freie Arbeiten beinhalteten. Einen weiteren Schwerpunkt seines Interesses bildete die lebendige Berliner Kulturszene, die sich nach 1945 neu formierte und deren zahlreiche Vertreter er porträtierte. Fritz Eschen starb im September 1964 auf einer Reportagereise in Melk, Österreich. Sein Nachlass aus 90.000 Aufnahmen, überwiegend im Mittelformat, wird von der Deutschen Fotothek archivarisch betreut.