Der entscheidende Augenblick – in der Fotografie ist dieser alles bestimmend. Er ist eine Synthese aus Wissen, Sensibilität, Technik, Form, Zufall und purer Intuition. Wenn all diese Elemente zusammentreffen, entstehen so starke, einzigartige Bilder, dass sie über das Alltägliche hinausgehen und etwas vom Wesen des Lebens enthüllen. Was jedoch ist ausschlaggebend dafür, dass bestimmte Fotografien zu Ikonen werden und sich ins kollektive Gedächtnis brennen? Was geschah kurz vorher, was folgte im Anschluss? Der Kontaktbogen dokumentiert weit mehr als die Entstehung des entscheidenden Moments. Er gibt einen intimen Einblick in den Arbeitsprozess des Fotografierens. Seine Bildsequenzen zeichnen die Spur einer Bewegung durch den Raum nach und zeugen zugleich vom Anspruch der Fotografie auf eine transparente Darstellung der Wirklichkeit.
Gleichzeitig ist die Veröffentlichung dieses Rohmaterials ein absoluter Tabubruch. Denn die Publikation dieses Mediums ist meist nicht vorgesehen und bleibt als Zwischenprodukt im geschützten Raum des Ateliers oder der Fotowerkstatt. Der Kontaktbogen ist in erster Linie das Logbuch des Fotografen, eine Entscheidungshilfe bei der Auswahl und der Index von späteren Negativarchiven. Gleichzeitig ist er jedoch mehr als ein künstlerisches Skizzenbuch; er zeigt die misslungenen Schritte auf dem Weg zum Endprodukt mit all seinen Irrtümern, Fehltritten, Sackgassen – und glücklichen Fügungen. Hier ist jede Drehung und Wendung, jede Entscheidung verzeichnet. Mit dieser totalen Transparenz und Entblößung seiner Arbeitsmethode macht sich der Fotograf angreifbar. Er riskiert, die Aura des Einzelbildes zu brechen und den kreativen Prozess zu entzaubern. So entsteht auch beim Betrachten des Kontaktbogens die Faszination, einerseits unmittelbar am Geschehen teilzunehmen und dem Fotografen über die Schulter zu sehen, andererseits damit etwas Verbotenes zu tun – wie in ein fremdes Tagebuch oder einen fremden Kleiderschrank zu blicken.
Umso mutiger ist daher der seltene Einblick, den die legendäre Fotoagentur Magnum mit dieser Ausstellung gewährt. Sie umfasst aus sieben Jahrzehnten über 100 Kontaktbögen der renommiertesten Fotografen weltweit – von Robert Capa, Henri Cratier-Bresson, Chim, Werner Bischof, George Rodger und Elliott Erwitt, über Inge Morath, René Burri, Eve Arnold, Leonard Freed, Thomas Hoepker, Josef Koudelka und Gilles Peress bis hin zu Martine Franck, Martin Parr, Jim Goldberg, Trent Parke, Jonas Bendiksen, Bruno Barbey, Paolo Pellegrin und Alec Soth.
In chronologischer Reihenfolge zeigt die Ausstellung leidenschaftlich engagierte Reportagen aus dem Zweiten Weltkrieg, Straßenszenen des Prager Frühlings, Ikonen wie Che Guevara, Mohammed Ali und Malcom X, Balkankrieg und Blutigen Sonntag, Brennpunkt Nahost, Porträts der japanischen, brasilianischen und britischen Gesellschaft sowie zahlreiche, weltweit historische Ereignisse mehr. Anhand dieser einzigartigen Zusammenstellung der Kontaktbögen werden in der Ausstellung drei unterschiedliche Ebenen sichtbar: Die jeweiligen politisch-sozialen Inhalte der Fotografien an sich, die allgemeine Historie der Reportagefotografie sowie die Entstehungsgeschichte der einzelnen Bilder.
Sämtliche analogen Bildformate sind in der Zusammenstellung von Magnum enthalten – vom Standardkleinbild über Panorama-Aufnahmen bis hin zum Großformat in Schwarz-Weiß und Farbe. Oft sind die Kommentare und Markierungen der Fotografen oder Bildredakteure sichtbar, die das beste Motive der Serie oder den exakten Ausschnitt eines Fotos bestimmen.
Der Kontaktbogen ist mittlerweile das Relikt einer Technologie, die heutzutage obsolet ist. Mit der Digitalisierung haben sich die Arbeitsprozesse und -formate grundlegend geändert. Als Folge dieser Entmaterialisierung ist der Kontaktbogen nur noch ein Phänomen der Archivierung, rückt jedoch gleichzeitig verstärkt inhaltlich in den Fokus und wird selbst zum Artefakt. Denn er symbolisiert ein eigenes Genre mit enger Verbindung zum Film, zur Narration und zur traditionellen Fotoreportage. So ist diese Ausstellung von Magnum eine Hommage an die analoge Arbeit und an die Authentizität des Mediums Fotografie – oder auch der Abgesang auf eine verlorene Kunstform.
In einem umfangreichen Begleitprogramm mit Vorträgen und Diskussionen mit Fotografen und Bildwissenschaftlern werden zudem Fragen nach den Veränderungen von Arbeitsweise, Wahrnehmung und Umgang mit der Fotografie durch den Übergang von analog zu digital vertiefend erörtert.
Seit dem Jahr 2000 präsentiert C/O Berlin ein lebendiges, kulturelles Programm internationalen Ranges. Als Ausstellungshaus für Fotografie zeigt C/O Berlin Werke renommierter Künstler, organisiert Veranstaltungen, fördert junge Talente und begleitet Kinder und Jugendliche auf visuellen Entdeckungsreisen durch unsere Bildkultur. Nach fast zwei Jahren ohne eigene Ausstellungsräume eröffnet C/O Berlin am Donnerstag, den 30. Oktober 2014, seinen neuen Standort, das Amerika Haus am Bahnhof Zoo. Mit dem Standortwechsel von Mitte nach Charlottenburg wird C/O Berlin zusammen mit dem Museum für Fotografie und der Helmut Newton Stiftung einen in Deutschland einzigartigen Kultur-Cluster für Fotografie bilden.