Sie seien Geschichtenerzähler (storytellers), sagt das Künstlerduo Joana Hadjithomas & Khalil Joreige über sich, und sie erzählen ihre Geschichten mit den Mitteln der Fotografie und des Films, sowie der Installation und Performance. Inhaltlich zieht sich wie ein roter Faden die jüngere Geschichte und Gegenwart des Libanons und von Beirut durch dieses Werk. In dieser Stadt wurden beide 1969 geboren; dort wuchsen sie auf, durch den libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) konfrontiert mit ständiger Unsicherheit, Gewalt und häufigen Ortswechseln, sowie mit den Bildern und Darstellungen dieser Momente.
Die künstlerische Praxis von Joana Hadjithomas & Khalil Joreige ist, so Okwui Enwezor, "eine Meditation über den Status und das Wesen der Bilder, wie sie durch die Welt reisen, und wie sie unser historisches Bewusstsein infiltrieren bzw. sich darin einbetten." "Wir kommen von einem Standpunkt der Minderheit, wo man ständig eine Strategie nutzen muss - um anders gesehen zu werden und um fähig zu sein, erneut sehen zu können", so Khalil Joreige. Dabei ist das starke Interesse des Künstlerduos an Archiv- und Dokumentationsmaterial in der Künstlerszene von Beirut kein Einzelfall. Während andere libanesische Künstler jedoch den beschleunigten Verlust von Gedächtnis beklagen, sind Joana Hadjithomas und Khalil Joreige der Meinung, es gebe nicht zu wenig, sondern zu viele Bilder und Erinnerungen. Ihre Strategie, mit dem vorhandenen Vorrat an Material umzugehen, ist die Verknüpfung von Dokumentarischem und Fiktion, und die Reaktivierung von Vergangenem.
Das Künstlerduo setzt in dieser Ausstellung fünf Kategorien von Bildern bzw. Werkkomplexen ein: Erstens Bilder von Gewalt und Krieg wie die von Straßenlaternen in Beirut, die durch Explosionen so deformiert sind, dass sie sich in eine Art Lebewesen verwandelt haben ("Archeology of our gaze: Bestiaries", 1997); zweitens ‚latente' Bilder, die das Verschwundene sichtbar machen, wie die Schubladen mit nicht entwickelten, analogen Filmrollen des fiktiven Fotografen Abdallah Farah und alle anderen Arbeiten über die Anwesenheit verschwundener Personen; drittens konstruierte Bildfindungen, die ‚den Blick verschieben', etwa wenn sie die Aufnahme einer Nachbildung der Rakete aus dem Umfeld der Libanese Rocket Society der frühen 1960er-Jahre mit historischem Dokumentationsmaterial zu einer Rauminstallation verbinden ("The president's Album"); viertens die virtuelle Beziehung zwischen Netzwerken und Internet zum Bild, bei der Nichtmaterielles eine Materialhaftigkeit erhält, wie in "The Rumour of the World", und schließlich fünftens Bilder, die der Gegenwart mit dem Gegenmittel der Poesie begegnen wie in "Waiting for the Barbarians", "Remembering the light" und "Ismyrna".
Manche Werke beziehen sich auf ein konkretes Ereignis aus der eigenen Biografie, z.B. auf das Verschwinden von Khalil Joreiges Onkel im Jahr 1985. Er wurde während des libanesischen Bürgerkriegs gekidnappt und ist bis heute einer von insgesamt 17.000 Vermissten. In seinem Archiv fand sich ein "latenter" Super-8-Film, den Joana Hadjithomas & Khalil Joreige fast 30 Jahre später zu entwickeln entschieden. Erst nach intensiver Farbkorrektur war auf den Bildern überhaupt etwas zu sehen. Das Video "Lasting Images" (2003) basiert auf diesem Super-8-Filmmaterial, ebenso die teppichartige, cremefarben blasse Komposition "180 Seconds of Lasting Images" (2006), zusammengesetzt aus 4.500 Fotogrammen. Solche Bildfindungen bekräftigen, dass sich die reanimierten, phantomartigen Formen weigern zu verschwinden; die erhoffte Versöhnung mit der Vergangenheit bleibt verwehrt.
Mit "The Rumour of the World" (2014) erkunden Joana Hadjithomas und Khalil Joreige, ob betrügerische Spammails (Scams) das Potential haben, sich aus eigener Kraft in Fiktion zu verwandeln, in Storys, die als Chronik jüngster Ereignisse und Disaster gelesen werden können, oder als seltsame Geschichte der zeitgenössischen Welt. Auf Bildschirmen sind Laiendarsteller zu sehen; sie tragen die Texte der Scams vor, die in der Ich-Form aus der Perspektive eines berühmten Diktators oder eines seiner Familienmitglieder geschrieben sind. Aus der Überlagerung von Stimmen im Zentrum der Installation kann sich der Besucher lösen, indem er an eine individuelle Geschichte näher herantritt und so Kontakt mit der jeweiligen Person bzw. dem Thema aufnimmt.
In "Remembering the light" (2016) schicken Hadjithomas und Joreige die Farben unter Wasser und beobachten, wie sich deren Spektrum mit zunehmender Meerestiefe verengt. Nacheinander verschwinden Rot, Orange, Gelb, Grün und Blau, bis schließlich nur Dunkelheit bleibt. Doch selbst im Lichtlosen erinnert sich das Plankton noch an die Helligkeit und enthüllt seine Leuchtkraft. Für das Defizit, den Schwund bzw. die Wunde ein so poetisches Bild zu finden, mag gleichzeitig der erste Schritt zur Transformation sein. "Poesie könnte dem Schwinden unsres Gebiets was entgegensetzen, in wirren Zeiten wo uns nur das Sehnen bleibt, Gewalt und Macht entgegenzutreten."
Die neueste Arbeit in dieser Ausstellung führt nach Izmir ("Ismyrna", 2016) und gründet auf der Freundschaft zwischen Joana Hadjithomas und der Malerin/Dichterin Etel Adnan (geb. 1925 in Beirut). In Izmir wurde der Großvater von Joana Hadjithomas geboren, und die Mutter von Etel Adnan. Beide mussten die Stadt früh verlassen, als Anfang der 1920er-Jahre das Osmanische Reich unterging. Die Mutter von Etel Adnan hat sich zeitlebens das Unmögliche gewünscht: nach Izmir zurückzukehren. Für den Vater, einen Offizier, ging mit dem osmanischen Reich seine gesamte Welt unter. Etel Adnan besitzt ein einziges Bild von ihrem Vater, Joana hat lediglich Listen mit Namen von Orten und Habseligkeiten. Beide denken in dem Film "Ismyrna" über die Entwicklung von Grenzen und Identität nach, über die Veränderungen in dieser Region und wie man die Nostalgie und den Schmerz der Elterngeneration umwandeln kann. Etel Adnan spricht von "ewiger Gegenwart" (eternal present) als Möglichkeit der Befreiung.