Geschichte ist allgegenwärtig: in den Jubiläen, die 2015 in der Schweiz gefeiert – und diskutiert – werden. Oder in den dramatischen, schon jetzt als geschichtsträchtig eingestuften Ereignissen rund um den Globus – die auch zeigen, dass die Geschichte eben doch noch nicht zu Ende ist, wie vor 20 Jahren behauptet. Das Helmhaus Zürich bringt 14 jüngere Schweizer Kunstschaffende zusammen, die in ihrer Kunst auf ganz unterschiedliche Art und Weise Geschichte – und Geschichten – machen. Indem sie sie aufdecken, erzählen, mitschreiben.
Vor 700 Jahren war Morgarten, vor 500 Marignano, vor 200 Wiener Kongress. Und vor gut 20 Jahren war die ganze Geschichte zu Ende. Zumindest erklärte sie der Politologe Francis Fukuyama 1992 für beendet. Nach den dramatischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts würde die Welt ab dem 21. Jahrhundert in das westliche, demokratische, kapitalistische System einschwenken – Widerstand zwecklos. Gerade Initiativen wie Occupy haben aber in den letzten Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass die neoliberale Realität nicht mehrheitsfähig ist. Dass nach der Geschichte auch vor der Geschichte ist. Dass das proklamierte Ende der Geschichte vor allem dem berühmten einen Prozent nützt. Und dass wir heute vielmehr das Ende der Nachgeschichte erleben (während an der Universität Zürich das Ende der «Schweizer Geschichte» proklamiert wird, zumindest des Studienfachs).
Geschichte wird wieder «gemacht»: an der Wall Street, in Hongkong, auf den Schauplätzen des arabischen Frühlings – und in der Kunst. In zahlreichen thematischen Ausstellungen im In- und Ausland, aber auch in den Praktiken einzelner Künstlerinnen und Künstler. Gerade in der Schweiz – die statt mit Geschichtsbewusstsein eher mit Geschichtsunterbewusstsein auffällt – machen zahlreiche Kunstschaffende unter Anwendung ganz unterschiedlicher künstlerischer Taktiken Geschichte: indem sie vergessene und verdrängte Geschichte(n) an den Tag bringen, unser Geschichtsunterbewusstsein analysieren, Erzähleridentitäten entlarven – und dabei selbst viel erzählen.
Die Helmhaus-Ausstellung «Geschichte in Geschichten» versammelt 14 Künstlerinnen und Künstler, die sich mit teils eigens für diese Schau entstandenen Werken in die Geschichte einschreiben, sie um- oder sogar neu schreiben. Dabei gehen sie besonders reflektiert vor, da sie alle einer jüngeren KünstlerInnengeneration angehören und entsprechend nicht nur aus der individuellen Erinnerung, sondern auch aus den verschiedenen kollektiven Gedächtnissen schöpfen. Ganz ohne sich nur an den Jahreszahlen 1315, 1515 und 1815 aufzuhalten, die 2015 zu einem Schweizer Hyper-Jubiläumsjahr machen. «We must not accept the memory of states as our own», schreibt der Historiker Howard Zinn in «A Peopleʼs History of the United States», einer alternativen Geschichte der USA. Dieser Aufruf kann, aus dem Kontext gerissen, im schlimmsten Fall in Geschichtsklitterei ausarten – aber im besten Fall in gute Kunst.
Als Aktionsfeld dient den Kunstschaffenden von «Geschichte in Geschichten» denn auch weniger ein spezifischer geografischer Schauplatz – und schon gar nicht ein historisches Jubiläumsschlachtfeld –, als vielmehr das Spektrum, das sich im Begriff «Geschichte» selbst eröffnet: Während die englische Sprache zwischen «History» und «Story» unterscheidet, kennt die deutsche Sprache nur ein Wort für die ganz grosse «Geschichte» und die vielen kleinen «Geschichten». Für Historie und Narration, für Fakt und Fiktion, für schriftliche und «Oral History». Die künstlerische Freiheit – die keinem wissenschaftlichen Gremium Rechenschaft schuldet – erlaubt es den Protagonistinnen und Protagonisten der Ausstellung, sich zwanglos auf diesem Begriffsfeld zu bewegen.