Das Helmhaus Zürich wird neu wahrgenommen – mit Hilfe von zwei jungen künstlerischen Ausnahmeerscheinungen: Das Haus transformiert sich ganz buchstäblich in der Ausstellung «Transformation» der Zürcher Künstlerin Asia Andrzejka Naveen, die mit einer Gruppe von Menschen aus unterschiedlichen Umfeldern im Helmhaus heimisch wird. Und es verwandelt sich, in der Ausstellung «Bluecore» des Zürchers De La Fuente Oscar De Franco, in eine Agentur für zerebrales Reisen. Die beiden Ausstellungen vereint eine Kompromisslosigkeit, wie sie in der Kunst – und auch ganz allgemein – selten geworden ist.
Leben in der Kunst: Was das hier und heute heisst, heissen kann, zeigt die neue, von Simon Maurer und Daniel Morgenthaler gemeinsam kuratierte Ausstellung im Helmhaus. Und sie macht es unvergesslich. Die beiden jungen Künstler Asia Andrzejka Naveen und De La Fuente Oscar De Franco sind singuläre Figuren, wie sie die Kunstwelt nicht häufig hervorbringt. Beide exponieren nichts weniger als ihre Existenz in ihren Ausstellungen: Existenzen, die ebenso fragil wie herausfordernd und stark sind. Sie suchen das Risiko, allein und im Austausch mit anderen. Sie setzen sich mit Haut und Haar der Welt aus – und nehmen die Welt in sich auf. Ihr Engagement für ihre Arbeit engagiert auch ihr Publikum. Wenn es hier um Wahrnehmung geht, von Farben und Bewusstsein, von Räumen und Gewohnheiten, – und vor allem um deren Veränderung – dann werden diese Ausstellungen auch ihr Publikum verändern.
Beide Künstler erleben ihre Identität als form- und wandelbar. Sie formt und verändert sich im Austausch mit der Umwelt – aber auch in der Isolation des Alleinseins. Individualität und Kollektivität sind komplex ineinander verschlauft, beeinflussen sich unaufhörlich und generieren das, was sich Ich nennt – und dem wir im nächsten Augenblick schon im Spiegel als Fremdem begegnen. Was ist dieses Ich – und wie «macht» es sich – unterwegs, auf Reisen, den Reibungen des Unbekannten ausgesetzt? Beide Künstler sind passionierte Reisende, nach innen wie nach aussen, digital wie analog. Ihre Identitäten sind unaufhörlich mobil, als ob sie nie Erholung, nie Schlaf bräuchten. Sie haben hohe Ansprüche ans Leben: an die vielen Leben, die sie leben.
Zwei so eigenwillige Œuvres dulden aber nicht nur Analogien zwischen sich. Die Gegensätze zwischen den beiden künstlerischen Strategien sind ebenso offensichtlich: Während Asia Andrzejka Naveen das Kollektive nicht nur sucht, sondern buchstäblich ins Helmhaus bringt, spricht De La Fuente Oscar De Francos Arbeit von der Vereinzelung des Menschen durch Technologie. Während Oscar De Franco Bildmaterial von Urtieren auf USB-Sticks brennt, schreibt sich die Gruppe um Naveen mit kollektiven Ideen ins Helmhaus ein. Und während Asia Andrzejka Naveen und ihre Verbündeten «MIRACLES» erleben – und das Kollektiv sich deshalb so nennt –, zieht De La Fuente Oscar De Franco das Setting einer Agentur mit dem Markennamen «DLFODF» in die weissen Helmhaus-Räume ein – und betreibt damit ein Selbst-Branding, wie es der Markt heute von jungen KünstlerInnen erwartet. Das Helmhaus Zürich transformiert sich – in eine Kommune ebenso wie in ein Business.
Für Asia Andrzejka Naveen ist Leben Kunst und Kunst Leben. Es gibt für sie keine Unterscheidung zwischen beidem. Das macht ihre Kunst – erschreckend?, beglückend? – authentisch und präsent. Sie selbst ist das künstlerische Werk, die involvierten Personen sind das künstlerische Werk – und unweigerlich werden auch die BesucherInnen ihrer Ausstellungen darin involviert. Gerade mal 32 Jahre alt geworden, ist sie schon acht Mal verheiratet. Unter ihren Ehepartnern gibt es Männer, eine Frau und einen Gott. Dieses plurale Parallel-Matrimonium funktioniert, weil die Künstlerin sich die unterschiedlichen juristischen, kulturellen und religiösen Gebräuche verschiedener Weltregionen zu Nutze macht. Asia Andrzejka Naveen hat Medikamente an sich selbst getestet, während der Schweinegrippe ein Schwein als Haustier gehabt, mehrere Monate in einem Durchgangs-heim für Asylbewerbende gelebt, ihren gesamten Besitz abgegeben und einen festen Wohnsitz aufgegeben. Seit zwei Jahren besitzt sie nichts mehr als einen Koffer und ist überall zu Hause. Wenn sie reist, übernachtet sie praktisch nie im Hotel. In der einzigen Nacht, die sie auf einer Reise durch den Iran in einem Hotel verbracht hat, versuchte jemand, sie zu vergewaltigen. In Flüchtlingslagern ist ihr das nie passiert. Ein gewaltiges Erdbeben und einen Vulkanausbruch auf Java und einen gigantischen Regenwaldbrand auf Borneo, vor dem sie bei höchster Alarmstufe evakuiert werden musste, hat sie überlebt. Zwischen den beiden Libanonkriegen ist sie von der Hizbollah festgenommen worden, weil man sie für eine Spionin hielt. Die Künstlerin, 1983 in Winterthur geboren, hat in Yogyakarta am Institut Seni Indonesia (ISI), in Hangzhou an der China Academy of Art und in Zürich an der ZHdK Bildende Kunst studiert und spricht neben Züritüütsch zehn andere Sprachen, darunter Russisch, Chinesisch und Sudanesisch. Asia Andrzejka Naveen ist ein Mensch, der kaum Angst kennt. Vielmehr: ein Mensch, der seinen Ängsten begegnet, sich mit ihnen konfrontiert. Ihre Offenheit und ihre Vorurteilslosigkeit sind frappant.
Das neue Projekt, das sie für die Ausstellung im Helmhaus konzipiert, heisst «Transformation». Es geht darum, exemplarisch bewusst zu machen, dass Veränderung möglich ist. Welche Veränderungen? Naveen arbeitet immer so, dass sie einen Raum eröffnet. Wer und was in diesen Raum kommt, was hier geschieht und sich entwickelt, ist offen. Weder Ziele noch starre Vorstellungen sind vorgegeben: Was passiert, beeinflusst den Verlauf. Zentral ist der Prozess – der Prozess ist bereits Transformation. Wer die Künstlerin kennt, weiss, dass es ihr um die Exploration und Erweiterung von Körpern und Psychen geht, die sie wesentlich im sozialen Austausch sucht und findet, dass es ihr um das «Bewusstsein des Bewusstseins», um Intensitäten geht. Das angeblich im Wortsinn unteilbare Individuum bildet sich darin, indem es sich teilt mit anderen, indem es sich mitteilt, indem es empfängt. Die direkt Beteiligten exponieren sich – und die «BetrachterInnen» exponieren sich auch. Das Kunstwerk spricht, wie ein Bild von Picasso sich auch mitteilt, sich veräussert, den Blick auf sich und in sich hinein zieht, mal leiser, mal lauter. Was hier geschieht, ist ebenso empfindlich wie herausfordernd und unvorhersehbar. Es werden fünf Menschen fest und sechs vorübergehend in den Ausstellungsräumen des Helmhaus wohnen, arbeiten, essen, schlafen und sich mit den BesucherInnen der Ausstellung austauschen. Diese elfköpfige Gruppe, nicht zu vergessen Hund Amos, die MIRACLES vereinigen unterschiedlichste Biografien und Backgrounds: KünstlerInnen, MusikerInnen, Fotografen, zwei Wissenschaftler, zwei PhilosophiestudentInnen, einen Arzt und einen Wirtschaftsinformatiker.
Es gibt eine Menge von formellen und informelleren Veranstaltungen. Die Ausstellung wird «leben», sich verändern, sich füllen und wieder leeren, wird Raum bieten für Unerwartetes und Gewohnheiten etablieren wie tägliches Yoga (BesucherInnen sind willkommen). Das Projekt ist ein Forum der Meinungen, der Meinungsbildung, eine Sammlung von Gedanken und Erlebtem – und nicht zuletzt der Reinigung. Es gibt Vereinbarungen: Wer im Helmhaus übernachtet, ist zu Beginn des Projekts schon definiert, Alkohol und illegale Substanzen sind ausgeschlossen, Rauchen wird eingeschränkt. Alles andere bleibt offen.
Der Exhibitionismus und Voyeurismus, die Inszenierungen und Stilisierungen von Formaten wie Big Brother sind hier heruntergebrochen auf das Reale. Festgehalten wird das wenigste, die Momente bleiben flüchtig und vergänglich. Für den Kulturkritiker Tilman Hoffer zeigt sich in Asia Andrzejka Naveens Werk eine «transformative Kraft der Erfahrung»: «Wenn das ewig wiederkehrende Warum? (freilich in unterschiedlichen Tonlagen) Ausdruck tiefsitzender metaphysischer Zweifel an jeder Erneuerung und Gestaltung des Lebens war und ist, dann ist Asias Projekt von einem heiteren Warum nicht? geleitet.» Warum also nicht? Schliesslich fragt sich, mit Naveen: «Is stability security?». Transformation ereignet sich aktiv und passiv, eh man sich’s versieht. Transformation wird Thema. Als Phänomen hat sie Ansteckungs-potential. Damit dieses Modell, Experiment und Abenteuer über das Helmhaus hinaus Kreise zieht?
Auch De La Fuente Oscar De Franco zieht mit seiner Ausstellung «Bluecore» weite Kreise. So weite, wie sie etwa Charles Darwin gezogen hat oder Phileas Fogg. Der 1986 geborene Zürcher Künstler kommt dieser Tage von einer Weltreise zurück, die ihn, auf den Spuren des Evolutionsforschers Charles Darwin und von Jules Vernes Romanheld aus «In 80 Tagen um die Welt», auf alle Kontinente gebracht hat. Oscar De Franco hat dabei mehrere hundert Stunden Filmmaterial angehäuft – das er nun auch im Ausstellungsraum aufhäufen wird: in Form von 3000 Datenportionen auf USB-Sticks.
De La Fuente Oscar De Franco hat mit grenzgängerischen und provokativen Performances und Videoarbeiten auf sich aufmerksam gemacht: So hat er für seine Abschlussarbeit am Master of Fine Arts der Zürcher Hochschule der Künste einen VBZ-Bus als Setting gewählt. Oder er hat, 2011 in der Galerie Gregor Staiger, ein Ritual aufgeführt, das von einer extremen Körperlichkeit ebenso geprägt war, wie von einer stringenten, verschiedene Zitate – von gnostischen Texten bis zum Blockbuster «Avatar» – aufnehmenden Inszenierung. Die aktuelle Arbeit «As Human as Perception Can Be», die vom Helmhaus Zürich und von weiteren Geldgebern getragen wird, ist De La Fuente Oscar De Francos bislang ambitioniertestes Projekt: Während künstlerische Forschung auch bedeuten kann, dass man am Schreibtisch einen PhD erlangt, vergleicht Oscar De Franco die digital permanent verfügbare Welt mit dem, was da draussen ganz analog passiert. Er reist eine eigene Route ab, die zwei fast schon klischierten Forschungsabenteuern folgt, die dem Künstler ein Handlungsspektrum für die eigene Arbeit eröffnen: der prototypischen Weltreise von Phileas Fogg, und einer Reise von Charles Darwin von 1831 mit dem Segelschiff «Beagle». Ein Einquetschen der Welt in einen menschlichen Zeitrahmen – 80 kurze Tage – in Foggs Fall, ein behutsames Beschreiben und anschliessendes Auswerten des Gesehenen bei Darwin. Oscar De Franco quetscht die Welt in seine Kamera und in einen Ausstellungsraum – und lernt gleichzeitig von seinen Destinationen. Auf den Cocos Islands etwa, einer Station von Darwins «Beagle», schwimmt Oscar De Franco heute im angeschwemmten Plastikmüll – ein Phänomen, das selbst Darwin nicht vorausgesehen hat. Phileas Fogg und Charles Darwin waren beide im 19. Jahrhundert unterwegs. Und doch könnten ihre Reisen nicht unterschiedlicher verlaufen sein: Foggs Anspruch ist die einseitige Überwindung der Natur durch fortschrittlichste Technik. Bei Darwin aber reift die Ansicht, dass Evolution nicht auf ein simples Gegenüber von Natur und Maschine hinausläuft, sondern dass Technologie und Natur zusammen wachsen – und zusammenwachsen. Heute spielen wir so perfekt mit unseren Maschinen zusammen, dass Darwin nur Recht gegeben werden kann.
Es hat etwas Ironisches: De La Fuente Oscar De Franco setzt mit seiner Reise aus-gerechnet dann auf seine eigene, auf die direkte menschliche Erfahrung, wenn diese gerade empfindlich zurückgestuft wird – etwa durch die VerfechterInnen des spekulativen Realismus. Aber brauchen nicht auch die Vertreter dieser momentan vieldiskutierten objekt-orientierten Philosophie, die die Wichtigkeit der menschlichen Wahrnehmung hinterfragt, ihre Wahrnehmung, um die Wahrnehmung zu hinterfragen? Oscar De Franco jedenfalls nimmt auf seiner Forschungsreise eine Verflüssigung unserer Identität(en) wahr: zwischen den Geschlechtern – der Künstler übersetzt das in queere künstlerische Strategien. Zwischen Mensch und Technologie – Oscar De Franco filmt fast permanent und lagert so Erinnerung quasi auf eine Festplatte aus. Und zwischen Mensch und Natur – auf den Galapagos-Inseln hat er mit einer Maske gearbeitet, die sich ebenso an einer Vielzahl dort lebender Tiere orientiert, wie an Alejandro Jodorowskys unrealisiertem Filmskript «Dune».
Obwohl sich Oscar De Franco nicht mit einer Placebo-Erfahrung der Welt zufriedengibt, orientiert er sich für die Helmhaus-Arbeit an «Blue Placebo», einem Werk von Felix Gonzalez-Torres von 1991. Während der einflussreiche amerikanische Künstler einen Teppich mit blau-silbern umwickelten Bonbons zeigte, wählt Oscar De Franco blausilberne USB-Sticks. Und während Gonzalez-Torres’ Bonbon-Installationen mitunter den Körper des verstorbenen Partners des Künstlers porträtierten – indem die Bonbons exakt dessen Körpergewicht aufwogen – wird bei Oscar De Francos Arbeit vor allem das Gewicht der angesammelten Daten spürbar. Vollzog man durch den Verzehr von Gonzalez-Torres’ Bonbons allerdings eine fast schon christliche Handlung, geht bei Oscar De Franco das Mitgenommene dann nicht mehr in unseren Körper ein. Dafür in seinen prothetischen Auswuchs – unseren Computer. Viren nehmen wir ja mittlerweile sowohl über den Mund als auch über den USB-Anschluss auf.
Damit zeigt die Arbeit auch prototypisch die Vereinzelung auf, die uns unsere technischen Hilfsmittel auferlegen: Statt eines Wir-Erlebnisses bietet «Bluecore» eine kühle Ausstellungs-situation, die erst danach, alleine an einem Gerät, komplettiert wird. Und die uns erst noch nur einen winzigen Teil des Materials zugänglich macht. Wir sehen das Ganze nicht mehr – und was wir sehen, schauen wir uns alleine an.