Anhand von ausgewählten Beispielen aus der Sammlung der Heinrich Gebert Kulturstiftung beleuchtet die Ausstellung Positionen des Plastischen in der Bildenden Kunst der Gegenwart. Damit werden auch einige der Wahlverwandtschaften der Plastikerin Andrea Ostermeyer vorgestellt.
In der Bildhauerei bezeichnet der Begriff „Plastik“ ein additives Formverfahren: aus „bildsamen, weichen“ Materialien (Gips, Ton, Wachs, Metall etc.) wird eine Form aufgebaut – im Gegensatz zur subtraktiven Vorgehensweise in der Skulptur, bei der von einem Material (Holz, Stein etc.) etwas weggenommen wird, um zur ästhetischen „Gestalt“ zu kommen.
In einem dem romanischen Sprachgebrauch abgeleiteten Sinne werden auch Zeichnung, Malerei usw. als „plastische Verfahren“ bezeichnet: Deswegen die Integration zweidimensionaler Arbeiten in die Ausstellung. Heute bezeichnet „Plastik“ auch transformative und ästhetische Eingriffe in Räume und in gesellschaftliche Strukturen.
Trotz formaler Unterschiede sind die meisten der hier gezeigten Arbeiten einer traditionellen plastischen Auffassung zuzuordnen: Figuration, Abstraktion, Konzept …
Unmittelbar lesbar sind die Arbeiten von Markus Lüpertz, Selim Abdullah, Fernand Léger oder Hans Josephsohn, deren Anlass die menschliche Figur ist. Allerdings mögen diese Figurationen im ersten Augenschein Porträtbüsten, Akrobaten oder Torsi sein, also Sichtbares darstellen, auf den zweiten Blick verweisen sie immer auf Kunstgeschichte. Motiv ist zwar der menschliche Körper, Thema aber sind das genutzte Material, die ästhetische Methode, die Frage, ob es überhaupt ein gültiges Menschenbild gibt. Abdullah und Josephsohn lassen – jenseits des ästhetischen Spiels – auch Existentielles aufleuchten. Indem Ostermeyer „Körperhüllen“ (= Kleider) verwendet, thematisiert sie ebendies. Ähnliches gilt für die dreiteilige Arbeit von Katharina Büche, die traditionellen Wandschmuck zitiert: von der Trophäenwand über die Ahnengalerie bis hin zu den drei Grazien oder Furien. Die Pappelinstallationen von Stefan Pietryga vereinen Landschafts- und Menschenbild. So wie das Matterhorn von Ottmar Hörl eben nicht nur ein Abbild des Berges, sondern ein Bild des Typus „Berg“ ist.
Architektonisch wirken die Arbeiten von Eduardo Chillida und Matias Spescha. Auf je eigene Weise bauen sie Raumkörper, die mal wie archaische Tempelanlagen, mal wie ein zeichenhaftes „Alphabet poétique“ virtueller Architekturen erscheinen. Beides sind allerdings nie Rekonstruktionen gesehener Bauwerke, sondern Auseinandersetzungen mit den Qualitäten des Ausgangsmaterials, ein Spiel mit der Balance zwischen Volumen und Leere, zwischen Dichte und Lichtigkeit etc. Eine Sonderstellung nimmt die Arbeit von James Licini ein. Einerseits mutet sie wie modernste Architektur an; andererseits ist es eine radikal minimalistische Plastik, die nichts ausser dem gegebenen Material formt, den Stahlträger VHP 80: Optischreiche Vielfalt durch Reduktion.
Ähnliches gelingt Erwin Rehmann, Jochen Stenschke und Edmund Tucholski im jeweils eigenen Medium, Bronze, Messing, Graphit, Altöl sowie Aquarell. Bei diesen Werken wird neben den materialimmanenten Eigenschaften, bspw. dem Fliessen des geschmolzenen Metalls, dem unaufhörlichen Ausdehnen des nie trocknenden Altöls oder der Transparenz der Aquarellschichten, der gestaltende Einfluss des wechselnden Lichtes auf die Formfindung Teil des Werks. Diese Eigenschaften nutzt auch Ostermeyer, um ihren „textilen“ Materialien Formen und Erscheinungen zu geben bzw. finden zu lassen.
Robert Müller und Frank Stella verweisen ebenso wie Ostermeyer auf scheinbar Altbekanntes. Die Plastik Fanfort von Müller, ein Modell der Fanfare, die bis vor kurzem vor dem Kunsthaus Zürich stand, wirkt wie eine Kinderrutsche, ein überdimensioniertes Spielzeug oder wie ein Requisit aus Science-Fiction-Filmen um 1950. Stellas Playskool Door scheint aus Fundstücken zusammengesetzt zu sein, ist allerdings aus Bronze gegossen. In einem zweiten Schritt wurden die Metallteile des Auflagenobjektes bemalt – bei 5 Exemplaren nahezu identisch. Das Ready-Made ist keine Trouvaille, sondern ein höchst artifizielles Werkstück, das im Titel wiederum auf industrielle Spielzeuge verweist. Ostermeyer nutzt auch Titel als Element, um Assoziationen auszulösen – die äussere Realität oder wirklichkeitsprägende Prozesse mit dem Kunstwerk zu parallelisieren. A. R. Penck, Beat Zoderer und Alighiero Boetti berühren Grenzen: jene zwischen Skulptur und Plastik sowie jene zwischen Malerei und Plastik. Sie sind sowohl das eine wie auch das andere. Ostermeyer arbeitet auch grenzüberschreitend – die Wirkung ihrer im Grunde plastischen Formungen zielt immer auf den Medienmix, besser: auf den kulturellen Hintergrund der Betrachter.
Im Aufbau der Ausstellung, die durchaus filmisch geschnitten ist, wollen wir die Korrespondenzen zwischen den verschiedenen künstlerischen Ansätzen aufleuchten lassen. Aus der Überzeugung heraus, dass in der Kunst seit 1945, spätestens seit 1960, kaum mehr von Gattung, Genre usw. in einem traditionellen, auf „Reinheit“ zielenden Sinne gesprochen werden kann.
Jedes Kunstwerk, das an der temporären Schönheitsoperation beteiligt ist, lässt aus handwerklichem Können und konzeptueller Folgerichtigkeit Formen und Gestalten entstehen, die konkret, sinnlich und assoziativ Wahrnehmungsfelder öffnen. Insofern unterscheiden sich die Kunstwerke von der Warenwelt oder jeglicher funktionalistischen Ordnung: Nutzbar sind sie nur, wenn der plastische Prozess von uns, den Betrachtern, gedanklich fortgeführt wird.