19.06.2007 - 02.09.2007
Von Kirchen und Küsten.
Stadtansichten und Seestücke bei Lyonel Feininger
Werke aus dem eigenen Bestand
Im Werke Lyonel Feiningers nehmen Stadtansichten und Seestücke eine besondere Stellung ein. Insbesondere die Dörfer um Weimar und die pommersche Ostseeküste waren Orte dauerhafter künstlerischer Inspiration. Sie waren für Feininger Refugien fern der industrialisierten Zivilisation und romantische Sehnsuchtsorte einer antibürgerlichen Lebensauffassung. Kirchen und Küsten boten sogar die schöpferische Chance des Austausches der beiden tragenden Motivebenen in seinem Werk: Feiningers wankende Kirchen gleichen Schiffen in Seenot und seine ruhigen Segler eingefrorenen Kathedralen.
Die verschlossene Erscheinung der Dörfer im Weimarer Land war für Feininger Anreiz zur genauen Naturbeobachtung. Die trutzigen Dorfkirchen waren in den Augen des Künstlers beseelte Motive. 1913 schrieb Feininger an Alfred Kubin: „Die Dörfer, wohl über hundert, in der Umgebung sind prachtvoll! Die Architektur ist mir gerade recht, so anregend, so ungeheuer monumental! Es gibt Kirchtürme in gottverlassenen Nestern, die mir das Mystischste sind, was ich von den sogenannten Kulturmenschen kenne.“ Höhepunkt der Beschäftigung Feiningers mit kirchlicher Architektur ist Gelmeroda, nur wenige Kilometer von Weimar entfernt. Der Künstler war von der gedrungenen Kirche mit der markanten achteckigen Turmnadel fasziniert. Die Bilder haben mit der Dorfkirche von Gelmeroda nicht mehr viel gemein. Das Bauwerk wird zu einer aufragenden Kathedrale überhöht und zum mystischen Sinnbild einer inneren Vision, zum Ausdruck einer geistigen Haltung. Den geistigen Gehalt des Bauhauses drückte Feininger 1919 mit der „Kathedrale“ aus, die er für das Manifest der Kunstschule gestaltete.
Als Junge hat Feininger selbstgebaute Segelboote im Central Park von New York zu Wasser gelassen, als Vater bastelte er für seine drei Söhne Modellschiffe, mit denen sie gemeinsam Regatten an der Ostsee fuhren. Feiningers Verhältnis zu Schiff und Meer hat sich in seiner Kunst auf ganz eigentümliche Weise ausgedrückt. Die meisten Arbeiten des Künstlers sind vom Strand aus gesehen, stets ist die Küste entvölkert. Das betriebsame Badeleben hat ihn ebenso wenig interessiert wie das Leben und die Arbeit der Seeleute. In Feiningers Aquarellen, bei denen es sich im Grunde um kolorierte Federzeichnungen handelt, liegen die menschenleeren Schiffe meist unbewegt im Wasser, die Elemente scheinen erstarrt. Eines der merkwürdigsten und rätselhaftesten Blätter ist „Saint Guénolé, Bretagne“ von 1937, dem Jahr, in dem Feininger wegen der nationalsozialistischen Diffamierungen Deutschland und Europa verließ. Die alte Kirche, festgefügt, augenlos und unheimlich, ist ans Meer gebaut und könnte auch ein gestrandetes Schiff sein. In diesem Aquarell vereint sich Feiningers Leidenschaft für Kirchen und Küsten vortrefflich.