Kirchner vor Kirchner: Die Ausstellung Ernst Ludwig Kirchner als Architekt zeigt die frühesten Werke des späteren Expres-sionisten von Weltrang. Bevor Ernst Ludwig Kirchner als Maler, Grafiker und Bildhauer des Expressionismus weltberühmt wurde, studierte er – bis dato kaum bekannt – Architektur. Die ambitionierten Baupläne und virtuosen Architekturzeichnungen des jungen Ernst Ludwig Kirchner aus seiner Studienzeit in Dresden und München werden nun erstmals umfassend vorgestellt. Rund ein Zehntel des gesamten architektonischen Oeuvres ist zum ersten Mal überhaupt zu sehen. Die Mathildenhöhe Darmstadt schöpft dabei aus einem reichen Konvolut an Arbeiten aus den Jahren 1901 bis 1905 im Nachlass Kirchner, das durch wesentliche Leihgaben deutscher und Schweizer Museen und Kulturinstitutionen ergänzt wird.
Ernst Ludwig Kirchner ist der einzige der vier Architektur-studenten und späteren Brücke-Künstler mit einem veritablen Korpus an Architekturarbeiten zwischen Historismus, Jugendstil und früher Moderne. Seine Entwürfe reichen von aufwendigen Innenraumgestaltungen mitsamt Möbeln, Lampen und Wand-ornamenten über Wohnhausprojekte, Malerateliers, Hotel- und Museumsplanungen bis hin zu seiner Diplomarbeit mit dem Entwurf einer kompletten Friedhofsanlage.
Das architektonische Werk von Ernst Ludwig Kirchner wird auf der Mathildenhöhe Darmstadt in den Kontext seiner einfluss-reichen Lehrer Fritz Schumacher (ab 1908 Stadtbaumeister von Hamburg) und Paul Wallot (Architekt des Berliner Reichstags 1884-1894) sowie seiner Kommilitonen und späteren Brücke-Kollegen Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff gestellt.
Kirchners Architekturentwürfe, insbesondere geprägt von Jugendstil und früher Moderne, weisen eine zum Teil frappierende Nähe zum Schaffen zeitgenössischer Architekten und Gestalter wie Peter Behrens, Erich Mendelsohn oder Joseph Maria Olbrich auf. Damit erschließt die Ausstellung neben einem monographischen Blick auf Kirchners Frühwerk zugleich ein spannendes Kapitel der Kulturgeschichte des Bauens um 1900.
Nicht zuletzt vermag das bedeutende Jugendstilkonvolut des späteren Brücke-Künstlers zu zeigen, um wie viel komplexer die Entwicklung der frühen Moderne verlaufen ist, als dies heutzutage weithin wahrgenommen wird. Kein Ort könnte für das Aufbrechen herkömmlicher Sehgewohnheiten und pauschaler Kategorisierungen geeigneter sein als die Mathildenhöhe Darmstadt zwischen Jugendstil, früher Moderne und Proto-Expressionismus.