Die über hundertjährige Geschichte des Kinos hat nicht nur innerhalb des Mediums bahnbrechende Entwicklungen durchlaufen - von der handbetriebenen Kurbelkamera bis hin zur digitalen Animation und zur 3D-Projektion - sondern hat im Laufe dieser Zeit auch unsere Wahrnehmung und dadurch uns selbst grundlegend verändert.
Wir erfahren die Welt jenseits unseres eigenen Horizonts über Gespräche und mediale Vermittlung, durch Berichte, Erzählungen und Geschichten, und malen uns diese häufig nach unserer eigenen Vorstellung aus. Mit der Fotografie und dem bewegten Abbild des Films nehmen wir diese jedoch auch in der Anschauung als Realität wahr, und machen auf diese Weise Erfahrungen, die sich von tatsächlich Erlebtem kaum unterscheiden. Wir haben eine genaue Vorstellung von New York, San Francisco oder Peking, lange bevor wir diese Orte selbst bereisen; wir wissen um Fantasy-welten und Liebesschmerz, um Geheimagenten, Sissi und Kriminalgeschichten.
Wir haben eine Erinnerung an Geschehnisse, die uns über den Film vermittelt wurden, und die sich nun mit den Erinnerungen unserer eigenen Erfahrungen vermischen. »KINO und der kinematografische Blick« dokumentiert dieses Phänomen einer verschwimmenden Realität mit künstlerischen Arbeiten in den unterschiedlichsten Medien.
Ganz am Anfang der Ausstellung steht Jason Silvas Kurzfilm The Immersive Power of Cinema, der in einem sehr unterhaltsamen, philosophischen Bogen die Faszination und Kraft des Kinos beschreibt: Geschichten werden auf den Punkt gebracht, sie werden präzise und eindrucksvoll erzählt und bleiben so in Erinnerung. Jana Müllers Installation Leichter Krimi seziert und präpariert die imaginäre Geschichte eines Tatorts - wie wir ihn aus vielen Filmen kennen - und Friedemann Hahn präsentiert in seinen Bildern eine malerische Sicht auf ikonische Bilder aus Kinoszenen. In Martina Sauters Fotoarbeiten überlagern sich Filmbilder und tatsächliche Fotografien, und John Stezaker montiert stimmungsvolle Landschaftspostkarten auf Filmstills und gibt dadurch ihrer Emotionalität eine neue Richtung. Emanuel Mathias untersucht in Nebahats Schwestern im Istanbul von heute die Langzeiteffekte einer fiktiven Figur aus Filmen der sechziger Jahre und John Sealeys They call me ... don't call me beschreibt Nachwirkungen der ersten schwarzen Helden aus den sogenannten blaxploitation Filmen. Ming Wong wiederum stellt sich selbst in das Zentrum der Betrachtung, indem er Szenen aus Rainer Werner Fassbinders Angst essen Seele auf nachstellt und sich selbst als Brigitte Mira oder als El Hedi Ben Salem inszeniert. Georg Parthen porträtiert in seinen Fotografien Multiplex-Kinopaläste als die Orte visuellen Erlebens, und Clemens von Wedemeyer spielt in Occupation mit den kinematografischen Konventionen und macht die Bedeutung von Licht- und Soundeffekten für die Spannungsabfolge deutlich. Romeo Grünfelder zeigt in desi're - The Goldstein reels ein vermeintlich aus dem Nachlass des Regisseurs Jack Goldstein stammendes Filmfragment, und auch Omer Fast führt mit der Videoinstallation Take a Deep Breath die Erwartungen an eine lineare filmische Erzählung ad absurdum.