29.09.2010 - 13.03.2011
Das Museum für Kunst und Gewerbe widmet dem Sitzdesign von 1960 bis in die Gegenwart erstmals eine große Ausstellung. "Ideen sitzen. 50 Jahre Stuhldesign" gibt mit 100 herausragenden Exponaten aus der hochkarätigen Sammlung des MKG, darunter Stühle, Sessel, Chaiselongues und Hocker, einen Einblick in verschiedenste gestalterische Ansätze und Motivationen aus fünf bewegten Jahrzehnten. Im Mittelpunkt steht der Stuhl als Zeitzeuge, etwa als Ausdruck einer Utopie oder als Instrument politischen Protests, als Reaktion auf ökologische Veränderungen oder als kühle Geschäftsidee, als Experiment mit neuesten Technologien oder als skulpturales Kunstwerk, in dem der Stuhl - losgelöst von seiner Funktion - gerade noch als Inspirationsquelle erkennbar ist. Stühle gelten als die Visitenkarte eines jeden Designers. Sie besitzen eine höhere visuelle Attraktivität als Tische, Schränke, Sofas oder Küchenmöbel und stehen exemplarisch für das zunehmende Aufbrechen der Grenzen zwischen Kunst und Design.
Einen Stuhl zu entwerfen gehört zu den großen Herausforderungen für Designer. Diese Aufgabe schien im Sinne der Moderne vollendet gelöst, als Michael Thonet seinen Designklassiker, den Kaffeehausstuhl Modell Nr. 14, in der seinerzeit revolutionären Bugholz-Technik herausbrachte. Heute, 150 Jahre später, gibt es unzählige neue Stuhlmodelle, die den künstlerischen, technischen und gesellschaftlichen Wandel vor Augen führen. Wie kein anderer Gegenstand ermöglicht das Thema Stuhl eine Auseinandersetzung mit widerstreitenden Positionen des Designs, auf deren einer Seite die vernunftorientierte, zweckdienliche Form, auf der anderen das freie Spiel der Phantasie und die künstlerisch autonome Gestaltgebung stehen. Im Stadium des Entstehens eines jeden Sitz-möbels steht eine neue Idee, die von Faktoren bestimmt wird wie dem Nutzen, dem Markt und der Zielgruppe, der Firmenphilosophie, den Materialien, den Herstellungsverfahren, dem technologischen Fortschritt, und schließlich entscheidend von der Persönlichkeit des Designers, sei er freier Künstler, Bildhauer, Regisseur, Architekt oder einfach Produktentwerfer. Der Begriff "same, same - but different" gilt in besonderer Weise für den Stuhl: als ein geistiges und materielles Produkt, das in hundertfachen Formulierungen manifest ist. Die Aus-stellung "Ideen sitzen. 50 Jahre Stuhldesign" erweist sich somit als Spiegelbild der Zeit und ihres Selbstver-ständnisses, ihren Zwängen und ihrer Sehnsucht nach der Freiheit des Gestaltens.
Die Design-Ausstellung wird dort zur Kunstausstellung, wo sie autonome Skulpturen zeigt. Der Stuhl, losgelöst von seiner Funktion, dient ihnen nur noch als Inspirationsquelle. Die jüngst erworbenen Stühle illustrieren dieses Phänomen des zeitgenössischen Stuhldesigns und stehen exemplarisch für das Aufbrechen der Grenzen zwischen Kunst und Design. Zu den Designklassikern unter ihnen zählen der berühmte Kugelsessel "Sunball" von Günter Ferdinand Ris, der "Well Tempered Chair" von Ron Arad, Stühle von Stefan Wewerka und der "Proust Armchair" von Alessandro Mendini, der die barocke Opulenz des Louis XV-Stil mit einem impressionistischen Motiv als Bezug aus der Zeit Marcel Prousts vereint. Die Designpositionen der Sammlung werden neben anderen bereichert durch den "Bone Chair", zu dem sich Joris Laarman vom natürlichen Knochenwachstum inspirieren ließ. Vladi Rapaport machte mit "The skull chair" und "The brain footstool" Schädel und Hirn zu überdimensionalen Sitzgelegenheiten. Mit der Sitzbank "Petit Jardin" umarmt Tord Boontje den Sitzenden mit einem zarten Geflecht aus Blättern, Blumen und Zweigen aus weißem Stahl. Louise Campbell formte mit "Veryround" eine ornamentale Sitzskulptur aus 240 ineinander gesteckten Stahlkreisen.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog in Deutsch, 240 Seiten, 101 farbige Abbildungen, 5 Euro, mit Beiträgen von Sabine Schulze und Rüdiger Joppien und Zitaten von den Designern oder deren Kollegen.
"Ideen sitzen" entstand anlässlich einer umfangreichen Erwerbung von 20 exzeptionellen Werken durch die Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen, mit denen die Sammlung des MKG um zentrale Designpositionen erweitert werden konnte. Die Ausstellung wurde ermöglicht durch die Hermann Reemtsma Stiftung. Der Katalog wurde finanziert durch die Justus Brinckmann Gesellschaft Freunde des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg.