Arno Gisinger wurde 1964 in Österreich geboren und lebt seit 2004 in Paris. Seit über fünfzehn Jahren entwickelt er eine pluridisziplinäre künstlerische Praxis, die Fotografie mit Historiografie verbindet. Beeinflusst durch die deutschen Denkschulen der Zwischenkriegszeit (Benjamin, Kracauer, Giedion) und die Methoden der neuen Geschichtsschreibung (White, Veyne, Ginzburg), versucht er in seinen Projekten eine zeitgenössische Neuinterpretation von Geschichtsschreibung am Beispiel ausgewählter Orte und Nicht-Orte der Erinnerung. Er schafft neue Formen und Figuren, indem er sich des Archivs, des Dokuments oder der Zeugenschaft im Sinne eines living memory bedient. Arno Gisinger arbeitet nicht nach fotografischen Genres, sondern stellt ja nach Projekt Menschen, Dinge oder Topografien in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen.
Von den ersten Arbeiten zur französischen Gedenkstätte Oradour sur-Glane (Archéologie d’un lieu de mémoire, 1994) und zu einer unterirdischen Rüstungsproduktion in den Tiroler Alpen (Messerschmitthalle, 1995), über die Auseinandersetzung mit der Enteignung jüdischen Eigentums in Österreich und Frankreich während des Zweiten Weltkrieges (Invent arisiert, 2000 / 147, rue Sainte-Catherine, 2004) bis hin zur fotografischen Befragung totalitärer Topografien und Ikonografien der Justiz in Nürnberg (Les Coulisses du pouvoir und La Scène du procès, 2004) stellen Arno Gisingers Arbeiten auf unpathetische Art und Weise die oft schmerzliche Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Krieg und Shoah. Waren die 1970er und 1980er Jahre in vielen europäischen Ländern von einem abrupten Wiederauftauchen der »dunklen Jahre« geprägt, die zu heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen Vergangenheitsbewältigung und Verdrängung führten, so haben die Diskussionen der letzten Jahre die nationalhistorischen Sichtweisen vielfach in Frage gestellt. Arno Gisingers Arbeiten reflektieren und thematisieren diesen Paradigmenwechsel über die geografischen Grenzen hinaus und stellen die generelle Frage nach Erinnern und Vergessen im Medium der Fotografie.
Nicht zuletzt stehen sie für die aktuelle Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen innerhalb der Tradition des Dokumentarischen. Es gibt stets einen Wirklichkeitsbezug, eine Art Feldforschung, in der der Fotoapparat jedoch nicht zur Erzeugung von Beweismitteln oder von »schönen Bildern«, sondern als Analyse- und Rechercheinstrument zur Befragung unseres Verhältnisses zur Vergangenheit benutzt wird. Die Methoden der historischen Disziplin tragen zur Konstruktion seiner Projekte im Vorfeld bei - Arno Gisinger arbeitet systematisch in Archiven und / oder befragt Zeitzeugen, oft lange bevor die ersten Aufnahmen entstehen.
Oft konfrontiert Arno Gisinger seine Arbeiten mit spezifischen Ausstellungsorten, die vom klassischen Museum und der Galerie bis zu ungewöhnlichen Orten im (halb-) öffentlichen Raum reichen: von einer alten Tabakscheune bei Langon über die ehrwürdigen Mauern in den Pariser Tuilerien bis hin zur Mole des alten Hafens in Bastia. Der Ort und seine geschichtliche Aufladung sind stets Teil der Gesamtinstallation, die den Status und die Aura des Einzelbildes hinterfragt, um unterschiedliche Lesarten der Arbeiten zu provozieren. Neue Produktionstechniken haben auch die Einbettung von Textelementen in bestimmte Arbeiten ermöglicht und die Frage nach dem Verhältnis von Bild und Schrift, von Betrachten und Lesen fotografischer Bilder gestellt.