Es war eine Sensation: 2010 wurden bei archäologischen Grabungen vor dem Roten Rathaus in Berlin nicht frühgeschichtliche oder mittelalterliche Hinterlassenschaften, sondern Skulpturen der Klassischen Moderne ausgegraben. Nähere Untersuchungen ergaben, dass es sich um von den Nationalsozialisten als „Entartete Kunst“ aus den deutschen Museen entfernte und seitdem vermisste Kunstwerke handelte. Sofort setzte mit Hilfe der „Forschungsstelle Entartete Kunst“ in Berlin die Rekonstruktion der Vorgänge ein: Wie kamen die Skulpturen in den Keller des Hauses Königstraße 50? Kann man die Objekte identifizieren und ihren Herkunftsort bestimmen? Welche Geschichten verbergen sich hinter jedem einzelnen der vom Brand und Einsturz des bombenzerstörten Hauses versehrten Fragmente?
Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Ausstellung der 14 Skulpturen, die nun aus einem besonderen Grund auch im Museum im Kulturspeicher Würzburg zu sehen ist: Eines der Schlüsselwerke aus der Ausgrabung ist die Terrakotta-Skulptur Die Schwangere von Emy Roeder, deren Nachlass im Museum im Kulturspeicher aufbewahrt wird; die im Museum aufbewahrte Holzfassung der Schwangeren kann nun erstmals direkt mit der Terrakotta-Version verglichen werden. Diese nur noch im Fragment erhaltene Figur gehörte ehemals der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, bevor sie 1937 der nationalsozialistischen Aktion „Entartete Kunst“ zum Opfer fiel. In einer beispiellosen „Säuberungskampagne“ zogen nationalsozialistische Delegationen damals durch die deutschen Museen und beschlagnahmten 21.000 missliebige Kunstwerke. Einige davon, wie zum Beispiel Roeders Schwangere, wurden in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München gezeigt.
Lange Jahre galt die Figur als verschollen. Dass sie und die anderen Skulpturen nun, nach 75 Jahren, wieder aufgetaucht sind, ist ein besonderer Glücksfall der Kunstgeschichte. Dabei haben die Figuren ihre wechselvolle Geschichte nicht unbeschadet überstanden: Gerade die Patina des Brandes und ihre Fragmentierung verleihen ihnen über ihren kunsthistorischen Stellenwert hinaus eine besondere Aura. Es handelt sich um Werke von bekannten Künstlern wie Emy Roeder, Edwin Scharff oder Otto Freundlich, aber auch von Bildhauern, die heute weniger bekannt sind, wie Karel Niestrath oder Karl Ehlers. Stilistisch reichen die Arbeiten vom Expressionismus über den Kubismus bis hin zu einem wieder stärker realistischen Stil in den 1920er Jahren. So ermöglicht der „Kurator Zufall“ für diese Ausstellung einen Querschnitt durch die deutsche Bildhauerei der Klassischen Moderne.
Das Museum im Kulturspeicher präsentiert die Ausstellung in dem Raum der Städtischen Sammlung, der Emy Roeder gewidmet ist. So wird ihr Werk in den Kontext ihrer Zeitgenossen, aber auch der zeitgeschichtlichen Verhältnisse gestellt. Zeitgleich zur Sonderausstellung „Tradition und Propaganda“ über den Bestand der Städtischen Galerie aus der Zeit des Nationalsozialismus, zeigt der „Berliner Skulpturenfund“ die Kehrseite der Medaille und die Verfemung der nicht systemkonformen Kunst. So ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Kunstschaffen und der Kunstpolitik im Nationalsozialismus möglich.