Mit zwei Ausstellungen rückt das Museum Ludwig im Juni 2014 seine reiche Sammlung von Fotografien ergänzt durch Leihgaben in den Mittelpunkt. Die Ausstellungen nähern sich der Sammlung aus zwei zeitlichen Perspektiven: Zum einen die Anfänge der Fotografie bis 1955, als Erich Stenger dem technischen Medium ein eigenes Museum widmen wollte. Zum anderen die 1970er Jahre, als Fotografie als Kunst und als theoretisches Objekt entdeckt wurde.
Roland Barthes unterschied im Jahr 1979 in seiner Schrift „Die helle Kammer“ zwei Umgangsweisen mit der Fotografie – ihre Zähmung durch ästhetische Kategorien wie Autorschaft, Oeuvre und Genre oder das Zulassen ihrer Verrücktheit, das in dem „Erwachen der unbeugsamen Realität“ in der Fotografie begründet liege. Etwa zwanzig Jahre später zeigten die documenta 10 und documenta 11 1997 und 2001, dass die zweifache Betrachtung der Fotografie als Kunst und als Abbild der Wirklichkeit sich nicht widersprechen muss. Im Gegenteil – nach Okwui Enwezor ist gerade die Fotografie als Dokument dazu in der Lage, Ästhetik und Ethik in ein neues Verhältnis zueinander zu setzen. Heute – 35 Jahre nach Erscheinen von Barthes’ Essay „Die helle Kammer“ – zeigt die Ausstellung Unbeugsam und ungebändigt dokumentarische Fotografien, die um 1979 entstanden sind, um sie auf ihre ästhetischen und ethischen, performativen und politischen Bezüge zur „unbeugsamen Realität“ zu befragen.
Mit den Jahren um 1979 verbindet sich vor allem die Zeit umfassender gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen, die das Dokumentarische zu einer künstlerisch wichtigen Haltung machte. Die Künstler und Fotografen beobachteten und dokumentierten den globalen Wandel über längere Zeiträume in der Regel dort, wo sie lebten. Zum Teil entstanden große Fotokonvolute. Daher steht in der Ausstellung nicht das Einzelbild im Mittelpunkt. Vielmehr sind aus der Sammlung von 15 Fotografen und Künstlern je eine Fotoserie ausgewählt worden, erweitert um Leihgaben, die exemplarisch die Sammlung ergänzen. Die dokumentarische Haltung ist nicht in den Fotografien allein, sondern auch in ihrem Gebrauch zu entdecken. Fünf Fragen werden daher in der Ausstellung an jede Fotoserie gerichtet: Wer hat die Aufnahmen gemacht, wann und wo, in wessen Auftrag, an wen sind sie adressiert, wo und wie wurden sie erstmals veröffentlicht? Und welche Möglichkeiten der Annäherung an Fotografie können in der Gegenwart bestimmt werden?
Seit Jahrzehnten geistert ein Phantom durch die Podien, Zeitschriften und Feuilletons: das Museum der Fotografie. Man brauche es, sagen die einen, „wirklich?“ erwidern die anderen. Der Chemiker und leidenschaftliche Sammler Erich Stenger (1878–1957) betrachtete Fotografien nie als Kunst, sondern als Belege einer Technik. Seine Vision ihrer Präsentation war aber eine museale. Schon früh plädierte er für ein (Technik-)Museum der Fotografie, für das er sammelte und auch einen Ordnungsplan entwarf. Als einer der ersten trug er zusammen: Landschaftsfotografien des 19. Jahrhunderts, Portraits, Fliegerfotografien aus dem Ersten Weltkrieg, als Schmuckstücke eingefasste Bildnisse, preisgekrönte Tierbilder der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Karikaturen auf die Fotografie und etliches mehr. So wie Stenger als Naturwissenschaftler Daten sammelte und in Tabellen oder Diagramme übertrug, so sortierte es auch alles, was mit Fotografie zusammenhängt. Etwa hundert Anwendungsgebiete unterschied er: von der Architekturfotografie zur Zauberfotografie. Sein Museum sollte eine Enzyklopädie der Fotografie werden – da war er ganz ein Mann des 19. Jahrhunderts.
Heute ist dieses „Museum im Museum“ Teil der Sammlung Agfa und damit ein wichtiger Bestand der Fotografischen Sammlung des Museum Ludwig, eines Kunstmuseums also. Wie aber in einem Kunstmuseum mit dieser Sammlung umgehen? Unter verschiedenen Aspekten sind Teile einzelne Werke und Konvolute schon seit dem frühen 20. Jahrhundert zu sehen gewesen. Jetzt soll aber Stengers eigene Sammlungsidee in den Fokus gerückt und überdacht werden. Schließlich sind Museen und Archive heute Gegenstand hitziger Debatten und intensiver Selbstreflexion. Sie bilden und regulieren das kulturelle Gedächtnis. Sie nehmen Einfluss auf unsere Sicht der Vergangenheit und Gegenwart, Fotografie im Museum ganz besonders. Als die Sammlung Stenger 2005 zum nationalen Kulturgut erklärt wurde, wurde diese Funktion quasi amtlich. Grund genug, sie einer Revision zu unterziehen und zu untersuchen, was nach welchen Kriterien gesammelt wurde und wie man heute in einem Kunstmuseum mit diesen Objekten umgehen möchte.