2014 jährt sich die Städtepartnerschaft Wiesbadens mit Berlin-Kreuzberg (seit 2001 Friedrichshain-Kreuzberg) zum 50. Mal. 1964 wurde sie als einer der ersten innerdeutschen Städtepartnerschaften initiiert, auch als Solidaritätsbekundung aus der verbindenden historischen Erfahrungen der Berliner Luftbrücke heraus, deren Versorgung die Amerikaner vor allem über die hessischen Flughäfen Wiesbaden-Erbenheim und Frankfurt koordinierten.
Von außen betrachtet, könnten die beiden Partner kaum unterschiedlicher sein: Wiesbaden mit seinen bekannten Quellen, dem Kurhaus und Kasino, der historischen Innenstadt und der großen Millionärsdichte einerseits, das berüchtigte und für sein Szeneleben bekannte Kreuzberg andererseits. Spätestens seit den 1968er Jahren, zu Zeiten der Studentenunruhen, gilt Kreuzberg als Ort der Progressivität, des Umschwungs und der Antizipation gesellschaftlicher und sozialer Umbrüche. Hausbesetzung, Anarchie, Armut, politische Agitation und Parallelgesellschaften sind die Assoziationen, die sich mit Kreuzberg verbinden, aber auch kulturelle Vielfalt, Kreativität, Kunst, urbane Mittelschicht und Gentrifizierung. Der Nassauische Kunstverein (NKV) möchte das Jubiläum dieser beiden „Antipoden“ vom 12.9. bis zum 14.12.2014 zum Anlass einer Ausstellung und Rahmenprogramm nehmen: Für die zwei-gliedrige Ausstellung „Hausbesetzung“ soll der Begriff der Gentrifizierung abstrahiert werden, indem eine invertierte symbolische Gentrifizierung durch Kreuzberger Künstler in Wiesbaden den konzeptuellen Ausgangspunkt bildet.
Der NKV, in einer Villa aus dem 19. Jahrhundert auf der „Prachtstraße“ von Wiesbaden gelegen, wird besetzt. Der Titel ist dabei programmatisch zu verstehen und nicht nur dahingehend, dass leere Räume mit Kunst besetzt werden. Zunächst wird die Ausstellung klassisch kuratiert und jedoch während der Laufzeit dynamisiert und transformiert: Die beteiligten Künstler sind im zweiten Schritt selbst eingeladen, einen „PartnerIn“ auszuwählen, um einen Dialog im Raum zu erzeugen, wobei die Auswahl der Person als auch des Mediums offen sind (z.B. Performance, Video, Grafik-Design, Architektur, historische Position, Populärkultur etc.) und der Kunstverein keine inhaltliche Einflussnahme ausübt, lediglich logistisch und organisatorisch unterstützt. Insgesamt verändert die Ausstellung so ihre Struktur mit zwei ineinander greifenden Phasen. Kontinuität innerhalb der Laufzeit gibt es nicht, so wie sich auch Stadtbild und Einwohnerstrukturen stetig verändert.
Thematischer Ausgangspunkt der Ausstellung ist das Phänomen der Gentrifizierung, ein akutes soziales Problem mit gesellschaftlichem Zündstoff und großer Sichtbarkeit vor allem in Kreuz-berg, da sich der oft von der Bevölkerung ausgehende Widerstand gegen die strukturelle Umwäl-zung hier verstärkt Bahn in medialen Bildern bricht. Ein Blick in die Geschichte Wiesbadens zeigt jedoch, dass Gentrifizierung nicht bloß ein Thema des 21. Jahrhunderts ist, das sich in den hippen Vierteln der Hauptstadt abspielt: So veränderte und prägte Kaiser Wilhelm II das Stadt-bild Wiesbadens enorm, indem er das „Nizza des Nordens“ regelmäßig im Sommer besuchte und in seinem Gefolge zahlreiche Adlige, Künstler und wohlhabende Unternehmer in die Stadt einzogen und sich niederließen. Geprägt durch Preußen, vervielfachte sich die Einwohnerzahl und es entstanden repräsentative Bauten, darunter das Kurhaus Wiesbaden mit seiner Spielbank und das Hessische Staatstheater an der Wilhelmstraße, eine Architektur, die das Stadtbild bis heute prägen. Ist Wiesbaden also ein Prototyp des 20. Jh. für den Prozess der Gentrifizierung? Eine Fragestellung, die aus der ästhetischen Perspektive ebenfalls zur Diskussion gestellt werden kann. Paradoxerweise stehen Künstler und Kulturschaffende – und damit eine en gros einkommensschwache Berufsgruppe – oft als vermeintliche Urheber von sozialökonomischer Um-strukturierung in der Kritik, da ihre Präsenz ein Viertel attraktiv werden lässt. So entsteht etwa seit 2006 in Wiesbaden auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs West das so genannte Künstlerinnenviertel. Die Ausstellung nimmt sich daher auch zum Ziel, diese stereotype Annahme zu hinterfragen. Während sie neue und kritische Blickwinkel auf das Thema bieten möchte, trägt das Rahmenprogramm mit Vorträgen und Diskussionen der Grundlage einer theoretischen Basis Rechnung.