In der aktuellen Ausstellung im HANNE DARBOVEN RAUM in der Sammlung Falckenberg wird erstmals eine graphisch prägnante, nahezu plakative Arbeit von Hanne Darboven (1941–2009), das Welttheater ›79‹, einer Arbeit ihres Lehrers Almir Mavignier (geboren 1925 in Rio de Janeiro) gegenübergestellt.
Mavignier studierte Mitte der 1950er Jahre an der Ulmer Hochschule für Gestaltung u.a. bei Max Bill und Max Bense, wo er auch Josef Albers kennenlernte. Sein Werk steht der konkreten Kunst sowie der Op Art nahe. Dabei setzte sich Mavignier stets über die herkömmlichen Grenzen zwischen bildender und angewandter Kunst hinweg. Neben den leuchtenden und flirrenden »Punktrasterbildern« ist er vornehmlich für seine »additiven Plakate« bekannt: Serien von Plakaten mit klaren geometrischen Formen und häufig kräftigen Farbkontrasten, die im öffentlichen Raum und in Ausstellungen als »All-Over«-Raster Plakatwände, Litfasssäulen und ganze Wände in Ausstellungen überziehen und eine starke visuelle Wirkung erzielen.
Für die Ausstellung hat Almir Mavignier großzügiger Weise das ,Urplakat‘ der Serie form, welches er 1963 für ein Einrichtungshaus in Ulm entworfen hat, zur Verfügung gestellt.
Hanne Darbovens Welttheater ›79‹ besteht aus insgesamt 366 Blättern im Din A4-Format. Zweidrittel des Blattes ist jeweils schwarz eingefärbt. In der rechten Bildhälfte gibt ein weißer Ausschnitt in Form eines gleichschenkligen Dreiecks den Blick auf eine collagierte Szenerie frei: In diesem sind auf einem Zweidrittel der Blättern Werbefiguren mit dem Firmenlogo des Kaffee-Unternehmens der Familie Darboven (IWE-Darboven) abgebildet. Die Anzahl der durchnummerierten Blätter entspricht den Tagen eines regulären Kalenderjahres, welchen ein einzelnes Titelblatt vorangestellt ist.
Von Blatt 135 bis 231 sind in einem dem Dreieck eingeschriebenen Rechteck jeweils in den ersten 1–12 Zeilen die für Darboven charakteristischen »Tagesrechnungen« für das Jahr 1979 eingetragen. Für diese errechnet die Künstlerin den so genannten »Konstruktions-Wert« (‚K-Wert‘ ) eines Datums. Dabei wird die Quersumme gebildet, wobei die Ziffern des Jahres ohne Jahrhundertangabe (‘79) getrennt gezählt werden, während der jeweilige Tag und der Monat als Einheiten behandelt werden. Zum Beispiel: 1.1.79 = 1 + 1 + 7 + 9 = 18K; 31.12.79 = 31 + 12 + 7 + 9 = 59K. Darboven stellt nun jeweils die Daten mit dem gleichen ‚K-Wert‘ zusammen. Insgesamt ergeben sich so 42 Werte (jeweils überschrieben mit No 1–No 42), die jeweils auf zwei Seiten dargestellt sind. Dabei erscheint die Quersumme des ersten Datums des Jahres lediglich einmal. Die Quersumme des zweiten Datums, des 2.1.79, erscheint zwei Mal: einmal als 1 +2 +7 + 9 = 19, und als aus dem Datum des 1.2.79 als 1 + 2 + 7 + 9 = 19 gebildeter Wert, und so weiter. Die Anzahl der Daten mit gleicher Quersumme steigt zur Mitte des Jahres – der No 21 auf den Blättern 175 und 176 – bis auf 12 Daten an, und fällt dann wieder auf ein einzelnes zurück, endend mit dem letzten Datum des Jahres, dem 31.12.79, als 31 + 12 + 7 + 9 = 59. Die restlichen Zeilen im Rechteck der jeweils ersten Seite sind durch die für Darboven typischen (durchgestrichenen) Wellenlinien gefüllt, auf der zweiten Seite bilden lediglich zwei bis vier Zeilen den jeweiligen ‚K-Wert‘ in der Liniennotation ab, versehen mit den Ziffern der Zwischensummen, der Rest des Rechtecks bleibt leer. Auf den Blättern 177 – 189, so zu sagen nach der ersten Hälfte des Schauspiels, sind auf 12 Seiten die Daten der Monate I–XII tabellarisch in drei Spalten innerhalb des Rechtecks aufgelistet. Ab Blatt 232 treten dann wieder die Werbefiguren auf.
Schwarz gerahmt und in Blockhängung überziehen die Blätter die Ausstellungswände als Gitterraster. Aus der Ferne wirkt die Installation durch den starken Schwarz-Weiß-Kontrast des »Layouts« der Blätter beinahe wie ein Werk der Op Art oder der konkreten Kunst – und korrespondieren optisch mit den »additiven Plakaten« Almir Mavigniers.
Auf der Bühne des Darboven’schen Welttheaters treten in Form der Werbe-Sammelbildchen Tier-, Indianer- und Märchenfiguren auf. Unter dem weißen Dreieck, den der geöffnete schwarze Vorhang frei gibt, steht abwechselnd zu lesen: »Vorhang zu« /»Vorhang auf«. Die Dramaturgie des teatrum mundi erweist sich als Abfolge von Auf- und Abtritten. Der automatische Wechsel zwischen Kommen und Gehen der Akteure bestimmt die Dramaturgie der Darbietung. Ganz in der Tradition des barocken Welttheaters unterstreicht die Betonung der Mechanik des Vorgangs den metaphorischen Charakter des Welttheaters, und das Wechselspiel der Auf- und Abtritte wird zum memento mori. Oder, um mit Oscar Wilde zu sprechen: Die Welt ist eine Bühne, aber das Stück ist schlecht besetzt.