"Figur I, Figur II" ist, obwohl von scheinbar schlichter Konstruktion und prägnant fotografischer Klarheit, eine verunsichernde, irritierende Bildserie. Andrzej Steinbach (*1983) fotografiert zwei junge Frauen. Dies geschieht in einem wie es scheint immer gleichen, neutral anmutenden Raum und im schwarz-weißen Hochformat 186 Mal. In einer ersten Museumsausstellung von Steinbach stellt das Sprengel Museum Hannover eine Auswahl von 20 Fotografien vor.
Doch worum geht es? Stehen die Fotografien in Kontexten politischen Protests? Führen sie in Gender-Debatten? Sind es verhaltene psychologische Studien? Ist es gar eine Art von Modefotografie? Oder geht es darum, welche Art von "Wahrheit" Fotografie bietet, geht es auf der eher medienreflexiven Ebene um die Lesbarkeit von visuellen Zeichen?
"Figur I, Figur II", jede wird von einer der beiden Personen repräsentiert, ist nah gesehen und distanziert betrachtet. Ohne offensichtliches Interesse an einem ‚Flirt‘ mit der Kamera agieren die beiden Frauen für den Fotografen. Haltungen, Posen und Gesten variieren mitunter nur minimal. Wechselnde Streetwear (Bomberjacke, Hoody, Herrenhemd, Springerstiefel etc.) und die Vorführung von Tüchern, T-Shirt und Sturmhaube als Mittel der Vermummung verweisen auf auf der Straße ausgetragenen, organisierten Protest. Einer spezifischen politischen Haltung oder gesellschaftlichen Gruppierung zuordnen lässt sich allerdings keine der beiden Figuren.
Der konzentrierte Ernst, mit dem agiert wird, legt nahe, dass es hier nicht um schlichte Rollenspiele geht. Doch bleibt der konkrete Realitätsbezug offen. Worum es sich tatsächlich handelt, gibt die Studioinszenierung nicht zu erkennen. Und je länger man auf diese Bilder schaut, umso intensiver stellt sich die Frage nach den Hintergründen. Statt einer Antwort formuliert "Figur I, Figur II" eine geradezu dringliche Aufforderung, genau und präzise zu schauen, das Wahrnehmbare in allen nur denkbaren Facetten zu prüfen. Was geschieht im Zusammenspiel von Körperhaltung, Mimik und Kleidung? Was geben die Gesichter preis?
1937 schrieb Albert Renger-Patzsch (1897-1966), dass man vom Wesen eines Gegenstandes ausgehen und mit rein fotografischen Mitteln versuchen müsse, diesen darzustellen, und dass ihm für die dienende Haltung gegenüber dem Motiv der Begriff der Objektivität angemessen scheine. Andrzej Steinbach versetzt "Objektivität" in eine höchst vitale Schwingung. Das Wirklichkeitsversprechen, das einer sich so klar und schnörkellos formulierenden Fotografie nach wie vor mehr oder weniger affektiv zugeschrieben wird, schlägt um in einen ganzen Katalog von Fragen, die sich sowohl im Feld des Politischen als auch im Hinblick auf die Reflexion des Mediums bewegen.
1983 zeigte der Filmemacher Harun Farocki (1944-2014) in einem 16mm-Film unter dem Titel EIN BILD über 25 Minuten, wie für die Mittelseite eines Playboy-Magazins eine nackte Frau fotografiert wird. Er dokumentiert die Zurichtung eines weiblichen Körpers zu einem öffentlichen, sich Kapitalinteressen unterordnenden Schaustück.
"Figur I, Figur II" schließt auch an solche und ähnliche bildanalytisch-kritische Konzepte an. Die Arbeit verweist aber auch auf Verunsicherungen, die sich angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierungen unterschiedlichster Protestgruppen und -gruppierungen im Hinblick auf konkrete gesellschaftliche Interessenlagen einzustellen vermögen.
Andrzej Steinbach (*1983 in Czarnkow / Polen) wuchs in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz auf und beendete 2013 ein Studium der Fotografie bei Professorin Heidi Specker an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Im gleichen Jahr wurde er mit dem Marion-Ermer-Preis ausgezeichnet.