31.10.2010 - 30.04.2011
Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als seien die kunstfertigen und fragilen Gegenstände aus dem kostbaren Elfenbein gefertigt. Doch dieser erste Blick täuscht. Eine genaue Betrachtung der Oberfläche - am besten mit der Lupe - zeigt die Porenstruktur von Knochen, zumeist Rinderknochen.
Schon zu Beginn der Menschheitsgeschichte wurde Knochen oder Bein zur Herstellung von Alltagsgeräten verwendet. Das Material stand reichlich zur Verfügung, da die Tiere wichtiger Bestandteil der Nahrung waren. Waren es zuerst Waffen oder einfache Handwerksgeräte, wurde im Laufe der Entwicklung stetig das Spektrum der Verwendung erweitert. Es kamen Kunst- und Schmuckgegenstände hinzu, und es entwickelte sich bereits in der Zeit der Römer ein spezialisiertes Gewerbe der Beinschnitzer.
Einen Höhepunkt in der Verarbeitung von Knochen gab es im Mittelalter. Geräte des alltäglichen Lebens, aber auch liturgische Geräte, wie Rosenkränze, Kruzifixe und Buchdeckelverzierungen, fanden immer stärkere Verbreitung neben der Verwendung des edlen, aber sehr viel teueren und selteneren Elfenbeins.
In der Renaissance wurde das Elfenbein bevorzugt, Knochen jedoch weiterhin verwendet. Im 17. Jahrhundert begann die Drechseltechnik allmählich die reine Schnitzarbeit abzulösen.
Die Blütezeit der Knochenverarbeitung lag im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert. Im höfischen Bereich wurden Armbrüste und Jagdwaffen mit Knochenauflagen verziert. Die Damenwelt verlangte nach dekorativen Flohfallen, Fächern oder Tanzkarten.
1775 etablierte Graf Franz I. zu Erbach-Erbach im Odenwaldstädtchen Erbach das Handwerk der Elfenbein- und Knochenschnitzerei. Noch heute ist Erbach eine Hochburg des Gewerbes.
Im 19. Jahrhundert wurde der Zugriff auf das Elfenbein durch die Kontinentalsperre und durch Napoleons Besetzung Europas erschwert. So verlagerte sich die Produktion von Gebrauchs- und Kunstgegenständen immer stärker auf das Material Knochen.
Die Biedermeierzeit erweiterte das Spektrum der Verarbeitung von Bein auf nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens: Ess- und Kochgeräte, Mode- und Schmuckartikel, Schreibgeräte, Handarbeitsutensilien, medizinische Instrumente, Hygieneartikel, Spielzeuge, Souvenirs, liturgische Geräte und vieles mehr wurden aus Bein gefertigt. Die Herstellung wurde immer stärker verfeinert, so dass die Erzeugnisse dem Geschmack des anspruchsvollen Publikums entsprachen.
Der Bedarf war so groß, dass Rinderknochen aus Nord- und Südamerika importiert werden mussten. Geräte aus Bein wurden Exportartikel: Souvenirs aus Knochen gingen von Erbach, Geislingen und Michelstadt nach Österreich und in die Schweiz, Kruzifixe beispielsweise nach Spanien und Südamerika. Die Technik glich sich in den
Schmuck- und Verzierungsformen immer mehr der Verarbeitung von Elfenbein an. Der erste Blick sollte bewusst täuschen. Der Kieler Jurist Klaus-G. Glüsing hat innerhalb von 30 Jahren die wohl Deutschland weit größte Privatsammlung von Geräten aus Knochen des 18. und 19. Jahrhunderts zusammengetragen. Der Schwerpunkt der Kollektion liegt auf der Zeit des Biedermeier. Die Sammlung stellt ein herausragendes und nahezu vollständiges Zeugnis eines Handwerk- und Kunstzweiges dar, der heute weitgehend vergessen ist. Kunststoff hat das Material Knochen ersetzt - allein in der Trachtenmode spielt es weiterhin eine Rolle.