© andreas130 / www.fotolia.de
KULTURpur - Wissen, wo was läuft!

Württembergischer Kunstverein Stuttgart im Kunstgebäude


Schloßplatz 2
70173 Stuttgart
Tel.: 0711 223370
Homepage

Öffnungszeiten:

Di-So 11.00-18.00 Uhr
Mi 11.00-20.00 Uhr

Platino: Flechtwerke und Fliehkräfte

23.02.2013 - 05.05.2013

Neben der Auseinandersetzung mit den jüngsten Positionen der zeitgenössischen Kunst widmet sich der Württembergische Kunstverein auch regelmäßig einer Neubetrachtung künstlerischer Werke und Praktiken, deren Ansätze in den 1970erund 1980er-Jahren wurzeln und die zugleich hochaktuelle Fragen und Auseinandersetzungsfelder der Kunst betreffen: darunter die Werke von Mark Tansey (2005), Antoni Muntadas (2006), Anna Oppermann (2007) oder Teresa Burga (2011).
2013 knüpft der Kunstverein an diese Reihe mit einer umfassenden Einzelschau des 1948 geborenen Stuttgarter Künstlers Platino an, die vom 23. Februar bis zum 5. Mai zu sehen ist. Die Ausstellung Platino. Flechtwerke und Fliehkräfte beleuchtet die widerständigen Potenziale, die Platinos Werk sowohl im Hinblick auf seine kunstbetriebs- und kapitalismuskritische Haltung als auch hinsichtlich seiner performativen, ephemeren und prozessualen Kunstpraxis auszeichnen.
Es geht um die von ihm erschlossenen, gleichermaßen ästhetischen wie politischen Handlungs- und Ereignisräume, die zwischen Kunst und Leben, Privatem und Öffentlichem, Bild und Raum angesiedelt sind und die einen permanenten Prozess der Neubestimmung und Neuverortung von Kunst und Nicht-Kunst, Werk und Betrachter, dem Gewissen und Ungewissen in Gang setzen.
Im Zentrum der Ausstellung stehen die sogenannten Externs, das heißt fotografische „Externalisierungen“ aus Platinos Langzeitprojekten, die seit 1979 in der konstanten ästhetischen, baulichen wie malerischen Transformation und Umdeutung von Räumen bestehen: dem Red Space 1 (1979–1986), dem Space 2 (1985–2003) und dem Space 3 (seit 2003). Alle drei Räume dienten bzw. dienen dabei zugleich als Atelier, Wohnung und Ausstellungsraum.
Bei den Externs handelt es sich weniger um Dokumentationen der entropischen Raumprojekte, sondern um deren Übertragung in ein anderes Medium und an einen anderen Ort. Die Externs bilden somit gleichermaßen die Fluchtlinien, die aus den Spaces herausführen, und die Verbindungslinien, oder Flechtwerke, zwischen den Spaces und den externen Ausstellungsorten.
Platino, der zwischen den Bereichen von Malerei, Skulptur, Installation, Fotografie, architektonischer und urbaner Intervention arbeitet, entwickelt seine Ausstellungen grundsätzlich ortsspezifisch. Dabei greift er stets in die vorhandene Situation ein und verändert diese durch malerische und architektonische Setzungen, die gemeinsam mit den weiteren Ausstellungsobjekten sowohl Resonanzen als auch Dissonanzen erzeugen. Die Idee des Gesamtkunstwerks wird somit gleichermaßen aufgegriffen und hintertrieben, im Sinne einer Dekonstruktion totalitärer Raumkonzepte.
Für den Kunstverein hat Platino ein Display entwickelt, das – baulich wie farblich – unterschiedliche horizontale und vertikale Raumstaffelungen vornimmt. Es wurde als integraler Bestandteil der Gesamtinstanstalltion konzipiert, die das Spiel der Transfomationen, Umdeutungen und Übertragungen fortschreibt: von den Spaces zu den Externs zum Ausstellungsraum.
Neben den Externs umfasst die Ausstellung auch eine Reihe scheinbarer Substitute, wie beispielsweise Elemete aus Platinos offenem, unabgeschlossenen Archiv der Farben: eine Sammlung zahlloser Farbproben – schier unendlicher Variationen von Farbtönen –, die er in den letzten Jahrzehnten angefertig, geordnet und mit genauesten Angaben zur jeweiligen Zusammensetzung versehen hat.
„Die Frage ist nicht, wer die Künste fördern wird, sondern welche Formen möglich sind, bei denen die Künstler die Kontrolle über ihre eigenen Ausdrucksmittel besitzen, und zwar dergestalt, dass sie in einer Beziehung zu einer Gesellschaft und nicht zu einem Markt oder Förderer stehen.“ Alexander Trocchi, 1963
1979 beginnt Platino mit der Gestaltung seines ersten Space, dem Red Space 1 in der Stuttgarter Olgastraße. Während der nächsten sieben Jahre wird er diesen Ort als einen privat-öffentlichen Lebens-, Arbeits- und Ausstellungsraum erschließen und ihn dabei beständig transformieren. Das Projekt besteht darin, sukzessive alle Elemente dieses Raums – Wände, Böden, Decken, Türen, Fenster et cetera – sowie die sich darin befindlichen und auf das Wesentliche reduzierten Dinge des täglichen Gebrauchs in verschiedenen Rottönen einzufärben. Ein öffentlich zugänglicher Raum entsteht, der die Wahrnehmung und Orientierung in erheblichem Maße irritiert. Im Verlauf der sieben Jahre wird die Gesamtsituation durch Eingriffe immer wieder verschoben. So kommen beispielweise von Platino geschaffene Objekte hinzu, die sich zwischen Form und Formlosigkeit, dem Zweckmäßigen und Unnützen, Kunst und Nicht-Kunst situieren.
1985 nimmt Platino an einem anderen Standort in Stuttgart die Arbeit am Red Space 2 auf. Das Projekt wird durch die Initiative Red Space 2 finanziert, eine Art Crowdfunding avant la lettre, das die Erschließung des neuen Raums, den Transfer des alten in den neuen Space sowie die Grundfinanzierung der ersten umfangreicheren Produktion der so genannten Externs – fotografische Interpretationen der Spaces – ermöglicht. Der neue Raum wird bis 2003 fortgesetzt, ab 1991 allerdings nur noch unter der Bezeichnung Space 2, da sich Platino seither in seiner Bearbeitung von Räumen nicht mehr auf die Farbe Rot beschränkt. Seit 2003 arbeitet er schließlich im und am Space 3.
Space 2 und Space 3 folgen im Wesentlichen offenen, ebenso systematischen wie intuitiven Prozessen der Freilegung und Neugestaltung räumlicher Strukturen. Einbauten wie Türen und Wände, Verblendungen von Rohren, Kabelsträngen und anderen Versorgungselementen werden dabei entfernt und das darunter Liegende neu gefasst, indem zum Beispiel offene Rohrleitungen mit mehreren Schichten aus Textilien, Leimen, Grundierungen und Lacken umhüllt werden. Dies dient sowohl der ästhetischen Umdeutung als auch der bautechnischen Wärmeisolierung.
Es handelt sich um einen steten, gleichermaßen archäologischen wie anatomischen Prozess der Freilegung, Hervorhebung, Sicherung und Versiegelung des Vorgefundenen – sowie dessen Verwerfung und Neubearbeitung. Mehr noch als beim Red Space 1 sind Space 2 und Space 3 zirkulär, als Schleifen eines unabschließbaren Prozesses der Reformulierung angelegt.
Platinos Spaces lassen sich als radikal entgrenzte Malereien begreifen, die den zeitlichen wie physikalischen Rahmen des Bildes buchstäblich aufsprengen. Ebenso buchstäblich befindet sich der Betrachter hier im Bild, er bewegt sich durch dieses Bild hindurch, das zugleich Handlungsraum des privaten und öffentlichen Lebens ist: ein Gefüge, in dem sich Kunstwerk, Atelier, Galerie und Wohnraum – aber auch Kunst und Nicht-Kunst, Ordnung und Kontingenz – überlagern.
In ihrer Performativität und Flüchtigkeit widersetzen sich die Spaces den Konventionen des Museums, der Verwertung durch den Kunstmarkt – insbesondere in den boomenden 1980er-Jahren – aber auch den standardisierten Wohnkonzepten, die der Neubau-Boom desselben Jahrzehnts im großen Stil hervorbringt. Sie richten sich gegen das Ideal jener klinischen Reinheit, die den White Cube ebenso charakterisiert wie die modernistische Wohnzelle.
Platinos Spaces sind an den Ort ihres Entstehens gebunden, da sie Orte eines permanenten Werdens sind. Ab 1982 entwickelt er eine Methode zur Übersetzung der Spaces in das Format der Fotografie – die sogenannten Externs. Dabei handelt es sich um Fotografien, die stark fragmentierte An-, Auf-, Unter- oder Seitenansichten der Spaces – oftmals aus einer schrägen Perspektive mit geradezu barock anmutenden Raumfaltungen – zeigen. Die monochromen Externs, die schwerpunktmäßig dem Red Space 1 entstammen, geben meist erst auf den zweiten Blick räumliche Elemente zu erkennen, so als müssten sich die Augen erst an das überbordende Rot gewöhnen. Insgesamt sind die Externs von einer starken Flächigkeit geprägt, die jedoch immer zugleich ins Dreidimensionale und Plastische zu kippen droht – und umgekehrt. Die fragmentierten Raumansichten funktionieren nicht als Pars pro toto, das auf ein imaginäres Ganzes verweisen würde, sondern führen unwiederbringlich aus den Spaces hinaus.
Im Rahmen von Ausstellungen werden die Externs nach bestimmten, die vorhandene räumliche Situation sowohl im dialogischen als auch widerstreitenden Sinne aufgreifenden Kriterien arrangiert: Mal hängen sie in verschiedenen Rhythmen an den Wänden, mal sind sie dort nur angelehnt, mal liegen sie auf dem Boden, sind in Raumübergängen platziert oder werden gar hinter Treppengeländern verborgen. Die Arrangements der Fotoarbeiten werden zudem durch monochrome Malereien bzw. Wandmalereien ergänzt, die das gesamte Setting sowohl miteinander verbinden als auch Brüche darin einbauen. 2000 wurden die Externs wiederum im Rahmen von Platinos Einzelausstellung in der Stuttgarter Staatsgalerie im Dialog mit aber auch als Störfaktoren der dortigen Sammlung platziert.
Da die Externs – allesamt mit Acrylglas verbundene Cibachrome-Abzüge – stark reflektierende Oberflächen aufweisen, spiegeln sich der Betrachter und sein räumliches Umfeld unweigerlich darin. Wie in den Spaces selbst gerät er buchstäblich ins Bild – genauer in einen Zwischenraum, in dem sich Bildraum und gespiegelter Raum überlagern. Man tritt in gewisser Weise wie Alice im Wunderland durch den Spiegel hindurch.
Die Externs, die Fragmente und Augenblicke aus den Spaces externalisieren, werden mit jeder Ausstellung zu immer neuen und immer nur temporären Gefügen verwoben. Zwischen dem „ursprünglichen“ und „externalisierten“ sowie von „externem“ zu „externem“ Ort des Geschehens wird dabei ein konstanter Prozess der De- und Rekontextualisierung – bzw. der De- und Reterritorialisierung in Gang gesetzt.

KULTURpur empfehlen