Der Berliner Künstler Jan-Peter E.R. Sonntag arbeitet zwischen den Bereichen von Bildender Kunst, Neuer Musik und Medientheorie.
Seine Einzelausstellung Rauschen basiert auf seinem Kunst- und Forschungsprojekt apparatus operandi und umfasst drei künstlerische Setzungen, die sich sowohl deutlich voneinander abgrenzen als auch miteinander verwoben sind. Sie bestehen im Wesentlichen aus der Präsentation einer Sammlung kurioser technischer Geräte, aus einem quadrophonen „Rauschraum“, in dem sich jegliche Verortung verliert , sowie aus einem „Backstage - Szenario“ mit Tableaus und Guckkästen, die eine Fülle an kulturhistorischen Dokumenten über das Horn zusammentragen. Kunst und Forschung, Ausstellung und Archiv, ästhetische Erfahrung und Wissensbildung werden hier mit- und gegeneinander gelesen. So steht Rausch und Rauschen hier auch für eine Obsession des Sammelns, die Kunst und Wissenschaften gleichermaßen betrifft.
Ausgangspunkt des Projektes ist der Synthesizer des 2011 verstorbenen, einflussreichen Literatur- und Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler, den dieser in den 1980er-Jahren eigenhändig zusammenlötete. Seit seinem Tod wird der aus fünf Modulen bestehende Synthesizer sowie die dazugehörigen Schaltpläne und Notate als Teil des Nachlasses im Deutschen Literaturarchiv in Marbach archiviert. Durch seine Forschungen, die Sonntag seit 2012 an diesem Synthesizer betreibt, ist er als Mitherausgeber eines Bandes der Gesammelten Schriften des Medienphilosophen berufen worden.
In einem Szenario, das Rembrandts berühmtes Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp zitiert, unterzogen Sonntag und ein Team aus TechnikerInnen und TheoretikerInnen den Synthesizer einer eingehenden Untersuchung. Ganz im Sinne Kittlers, der Kultur und ihre Medien als Datenverarbeitungsmaschinen verstand, deren Schalt- und Regelkreise es offen zu legen galt, wurde hier der Versuch unternommen, aus eine m elektronischen Apparat, seinen Ver/Schaltungen und Innereien zu lesen. Am Objekt wurde Kittler-Exegese und Schaltungsgrammatologie betrieben. Wenn der Synthesizer selbst eine Quelle ist, wie müsste eine Wissenschaft vom Lötkolben als Schreibwerkzeug aussehen?
Mit dem Verweis auf Rembrandt spielt Sonntag zugleich darauf an, dass mit der Geschichte der Anatomie die Vorstellung des Körpers als Apparat, den man beliebig auseinander- und zusammenbauen könne, einhergeht. Enttäuscht musste man dabei feststellen, dass, so tief man auch in den Körper eindrang, es dort keine Seele zu finden gab. Und so ist denn auch Kittlers großes Anliegen „die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ gewesen.
Apparatus Operandi (Kittlers Synt hesizer und Nietzsches Schreibmaschine)
Das Rembrandt und Kittler miteinander verknüpfende Tableau Vivant bildete auch das Motiv einer Fotoserie und eines Videos, die in der Ausstellung zu sehen sind. Geplant ist zudem, den originalen Synthesizer (samt der dazugehörigen Schaltpläne und Notizen) sowie weitere Artefakte zu zeigen: darunter der Lectron Baukasten der Firma Braun von 1966, mit dem Kittler seinen ersten Schaltkreis baute – und dessen Design, so Sonntag, Kittlers Medientheorie wesentlich geprägt haben soll, oder Friedrich Nietzsches Schreibmaschine. Aus den Farbbändern dieser Schreibmaschine glaubte Kittler, Nietzsches Gedanken lesen zu können...
Rauschraum (White Cube und Weißes Rauschen)
Das zweite Element der Ausstellung ist eine „Weiße Zelle“ mit vier auskragenden Hörnern, in der Sonntag eine n quadrophonen Rauschraum einrichtet. Die Bedeutung des Synthesizers als Symbol der Popmusik der 1960er- und 1970er- Jahre weiterführend, geht es hier um die Beziehung von Rausch und Rauschen. Erzeugt wird ein Mix aus dem Rauschen technischer Bauteile, Waldes- und Meeresrauschen sowie innerkörperlichem Rauschen – ein Soundgemisch, das endlos aufzusteigen scheint. Dabei entsteht das Phänomen – bzw. die Wahrnehmungstäuschung – eines vollkommen verräumlichten Rauschens. Die Installation – ein White Cube im White Cube – greift formal die ästhetische Sprache sowohl des vorhandenen Ausstellungsraums als auch der minimal art auf. Sie referiert zudem in ihren Ein- und Abgängen auf Samuel Becketts Stück Quadrat. Letzteres hat Sonntag im Rahmen eines anderen Projektes in einem Stadion in der Nähe zu den Berliner Kunstwerken aufgeführt und dabei die Grundstücksspekulationen in Berlin Mitte thematisiert.
Archiv über die Geschichte(n) des Horns
Auf der Rückseite des White Cubes / Rauschraumes präsentiert Sonntag schließlich eine Auswahl aus seinem umfangreichen Archiv, die um die Geschichte des Horns kreist. Sie umfasst Fotografien, Zeichnungen, Fotokopien, Objekte und Dokumente aus Kunst- und wissenschaftlichen Sammlungen, darunter Abgüsse historischer Hörner, Stiche aus dem 17. Jahrhundert mit biblischen Posaunen oder von Sonntag und seinem Team selbst entwickelte Kugelwellen-Soundsysteme. In einem Setting aus fünf großformatigen Bildtableaus, Guckkästen und Vitrinen, das gleichermaßen auf Aby Warburgs Mnemosyne Atlas wie auf das Modell der Kunst- und Wunderkammer zurückgreift, unternimmt Sonntag eine Relektüre des Horns: Sie reicht von mythologischen und religiösen Motiven wie die Posaunen der Offenbarung, über die Funktion des Horns als Signalgerät bis zur Musikgeschichte, vom Grammophon bis zur modernen Lautsprecheranlage.
Mit der Ausstellung möchte der Württembergische Kunstverein eine künstlerische Position vorstellen, die auf eigenwillige Weise die Diskurse, Repräsentationen und Dispositive von Kunst und Wissenschaft auslotet. Von der anatomischen Arena bis zum White Cube, vom wissenschaftlichen Beweismittel bis zum fetischisierten Artefakt, von der analytischen Betrachtung bis zur sinnlich-rauschhafte Erfahrung werden hier beide Felder neu vermessen. Sonntag strebt dabei eine „Verschaltung“ an, die zwischen den Grenzen der Wahrnehmung – einer rauschhaften Unmittelbarkeit – und einem Netzwerk schier endloser Referenzketten durch Kunst-, Technik- wie Wissenschaftsgeschichte angesiedelt ist.