Kein Stoff, kein Material, keine Technik vermag unser sinnliches wie auch mentales Dasein so universell zu berühren, wie das Textile und das gerade in einer Zeit, die durch die zunehmende Virtualisierung immer unsinnlicher zu werden droht. Das Textile mit seinem über Jahrtausende weltweit entwickelten Reichtum an Webarten und Texturen ist das ideale Medium, diesem Bedürfnis nach Sinnlichkeit nachzukommen.
Mit einer historisch weit gespannten Ausstellung widmet sich das Kunstmuseum Wolfsburg erneut einem Lebens-Thema aus Sicht der Kunst: multimedial, interdisziplinär und die verschiedensten Kulturen umfassend. Nach Interieur/ Exterieur 2008 und Die Kunst der Entschleunigung 2011 ist dies eine weitere Etappe auf der Suche nach der Moderne im 21. Jahrhundert, die das Museum im Jahre 2006 begann.
Rund 200 Exponate von über 80 Künstlern und rund 60 weiteren anonymen, nicht überlieferten Künstlern umfasst diese groß angelegte Ausstellung, darunter hochkarätige Gemälde von Gustav Klimt, Vincent van Gogh, Edgar Degas, Henri Matisse, Paul Klee und Jackson Pollock. Gezeigt werden auf rund 2700 Quadratmetern Ausstellungsfläche aber auch Artefakte, die keine namentlichen Schöpfer kennen, wie etwa ein gewobener Stoff aus dem alten Peru aus der Sammlung von Anni Albers.
Bei der Erkundung der Bedeutung des Textilen geht es auch um eine Art »Neulesung« der Geschichte der modernen Kunst vom Jugendstil bis heute. Die Trennung von Kunsthandwerk und bildender Kunst hatte in der Moderne zur Folge, dass alles »Kunsthandwerkliche« über Jahrzehnte systematisch aus dem kunsthistorischen Kanon verdrängt wurde. Dabei bezog die Moderne aus der Verbindung von Kunst und Kunsthandwerk entscheidende Impulse.
Für die Besucher von Kunst & Textil mag es überraschend sein, dass sie in der Ausstellung nicht nur auf Kunstwerke treffen, die aus dem Material Stoff gearbeitet sind - wie etwa die typischen Strickbilder von Rosemarie Trockel -, sondern auch auf Gemälde, die Stoffe abbilden, wie etwa die hängende Wäsche in Edgar Degas’ Bild »Die Büglerin« oder den üppigen Ball-Entrée, der Marie Henneberg in ihrem Bildnis von Gustav Klimt (1901) in eine textile Wolke hüllt. Videoarbeiten beschäftigen sich mit der Idee des Textilen (Kimsooja) oder tauchen den Betrachter in einen Kosmos sich ständig wandelnder Netze (Peter Kogler). Darüber hinaus sieht man Objekte, die man sonst nur im Völkerkundemuseum antrifft, wie etwa feine Kubastoffe aus Afrika.
Ihr umfassender Ansatz macht Kunst & Textil zu einer Grundlagen-Ausstellung. Ihren Ursprung und ihre komplementäre Ergänzung findet sie dabei in ihrem Pendent, der Ausstellung Ornament und Abstraktion (Fondation Beyeler) aus dem Jahr 2001, die die Bedeutung des Ornaments für die Entwicklung der abstrakten Kunst untersuchte. Geistiger Schirmherr dieser thesenhaften Schau war der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl, der 1893 eine universale Geschichte der Form schrieb, die von den frühesten Mustern, die der Mensch schuf, über das ägyptische Lotusmotiv und die griechische Palmette bis zum Arabesken-Ornament führte und die man, so dann die These der Ausstellung, in der abstrakten Kunst weiterverfolgen konnte. Riegl antwortete damit Gottfried Semper, der 1863 die Technik und die Auseinandersetzung mit dem Material als Ursprung der Formen und Symbole sah. »Form follows material«: Das ist die Formel, die man bei dem Projekt Kunst & Textil ansetzen kann.
Den Auftakt der Ausstellung Kunst & Textil bildet die bewegte Zeit des Jugendstils, als Künstler und Gestalter wie William Morris und Henry van de Velde sich in Paris, Brüssel, London und Wien anschickten, die Hierarchie zwischen Kunst und Kunsthandwerk zugunsten eines umfassenden Lebensentwurfes aufzulösen. Das textile Gestalten war auch das Bindeglied zur Malerei, die nach Édouard Vuillard, Henri Matisse und Gustav Klimt gerade im Begriff war, abstrakt zu werden. Der Besucher folgt dem roten Faden weiter zum Bauhaus in Weimar und Dessau, wo das textile Gestalten einen ersten Höhepunkt fand und wo die Grundlagen für die Entfaltung der sogenannten Fiber Art gelegt wurden. Doch weniger die Verkündung einer eigenen Kunstrichtung war fruchtbar, sondern vielmehr die immer selbstverständlichere Verwendung des Textilen als Medium, Technik, Material und Idee innerhalb avantgardistischer Kunstbewegungen: wie in der Material- und Antiform-Kunst (Robert Morris), der Soft und Pop-Art (Sigmar Polke), der Fluxus- Kunst (Joseph Beuys) sowie auch in der Minimal Art (Agnes Martin). Der »Textil-Kunst« selbst haftete noch lange der Ruch des bloß Kunstgewerblichen an und wurde als »Frauenkram« und weibliche Hausarbeit abgetan bis Rosemarie Trockel Anfang der 1980er-Jahre ihre ersten Strickbilder schuf und das Klischee des Textilen als geschlechtsspezifische Ausdrucksform umwertete. Das Kapitel »Spiderwomen« ist daher wichtigen Protagonistinnen der feministischen Kunst gewidmet, neben Trockel auch Louise Bourgeois, Mona Hatoum und Ghada Amer. Seither haben Künstler das Bedeutungsspektrum des Textilen enorm ausgedehnt und das aktuelle Kunstschaffen ist geradezu durchsetzt von Arbeiten aus Fäden und Stoffen, genähten Skulpturen und gehäkelten Installationen.
Der »Kosmos Textil« reicht aber weit über die Kunst hinaus und betrifft unsere Aneignung von Welt fundamental. »Menschsein heißt Leben mit Stoff«, sagt die Textilforscherin Beverly Gordon. Textilien begleiten uns das ganze Leben sprichwörtlich von den Windeln bis zum Leichentuch. Das Spinnen und Weben ist, wie Gottfried Semper schon 1860 feststellte, eine Urtechnik, aus der alle anderen Künste hervorgingen. »Wo ‚Bindung’ und ‚Verknüpfung’ nicht kulturtechnisch bewältigt sind«, erläutert Hartmut Böhme, »kann es auch keine Kultur geben«. Der Jacquard-Webstuhl, dieses Urmodell der Industrialisierung, führte das Lochkarten-Prinzip ein und wurde dadurch zu einem Prototyp der digitalen Bildkultur. Diese hochaktuelle Analogie von maschinellem Weben und digitalem Prozessieren verleitet dazu, das World Wide Web als eine Art Webstuhl des Internet-Zeitalters zu verstehen.
Die Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg verfolgt auch die Frage nach dem Anteil textiler Techniken an der Geburt der Abstraktion. So findet die orthogonale Gewebestruktur von Kette und Schuss ihre Entsprechung zum rechtwinkligen Gittermuster, das Ende der 1920er-Jahre die moderne Malerei eroberte (Piet Mondrian). Ein besonderes Augenmerk legt Kunst & Textil auch auf das zweite Hauptereignis der modernen Kunst, nämlich den Ausstieg der Malerei aus dem Bild in den Raum. Die Ausstellung verfolgt den »Faden aus dem Bild in den Raum« anhand von historischen wie auch z.T. für den Anlass geschaffenen Installationen (Leonora Tawney, Fred Sandback, Chiharu Shiota, Peter Kogler).
Das größte Kapitel mit Exponaten aus Afrika, Südamerika, Asien und dem Orient ist dem interkulturellen Dialog gewidmet. Die Universalität des Textilen macht es zu einer Art Weltsprache. Überall wird über »Global Art« diskutiert, die sich angeblich nicht mehr am westlichen Kunstbegriff orientiere. Doch wie lässt sie sich im nach wie vor westlich orientierten Kunstbetrieb präsentieren? Auch ethnologische Museen und Museen nichteuropäischer Kunst müssen sich dieser Frage stellen, wie etwa das künftige Humboldtforum in Berlin. Das Kunstmuseum Wolfsburg schlägt in dieser Ausstellung ein eigenes Präsentations-Modell vor, das auf der Zusammenführung von Objekten aus verschiedenen kunst- und kulturhistorischen Kontexten basiert.
Das Wolfsburger Wandsystem ermöglicht eine vielseitige Inszenierung der Ausstellung und wird z.T. selbst zum Objekt, wie etwa bei der Nachempfindung des einzigartigen Café Samt & Seide, das Lilly Reich und Ludwig Mies van der Rohe 1927 in Berlin errichteten.